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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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Und warum war er jetzt schon hier, wo doch seine Heimkehr erst für den Sommer geplant war, um rechtzeitig zur Ernte zurück zu sein?
    Die beiden Männer zerrten die Kuh in die Mitte des Hofs. Den Strick hielten sie in der einen Hand, große Messer in der anderen. Die Kuh schien ihren Tod zu ahnen, denn sie brüllte durchdringend, wie sie noch nie gebrüllt hatte. Wenn Runa sie molk, redete sie mit sanfter Stimme auf das Tier ein, und dieses beglotzte sie dann mit seinen farblosen Augen, stand aber ganz ruhig da.
    Nicht!, wollte Runa am liebsten schreien. Tut ihr nichts!
    Doch wieder unterdrückte sie den Aufschrei und biss sich auf ihre Lippen. Wahrscheinlich hatte der Vater befohlen, die Kuh zu schlachten, und wenn die Großmutter in seiner Abwesenheit auch eigenmächtige Entscheidungen fällte, fügte sie sich seinen Befehlen, sobald er wieder da war.
    Jedes Mal, wenn der Vater heimkehrte, lächelte Runa ihn an, aber zählte insgeheim die Tage, bis er wieder mit seinen Männern ablegte - im Frühjahr nach der Aussaat, im Herbst nach der Ernte. Seine Geschenke nahm sie dankbar entgegen, aber sie konnte nichts davon brauchen: Was fing sie mit Bernstein von der Ostsee an, wenn es niemanden gab, dem sie gefallen musste, was mit Tauen aus Seehundhäuten, wo sie doch selbst auf keinem Schiff lebte, was mit Walrosszähnen und Walknochen, aus denen sich Männer, aber doch keine Frauen Pfeifen schnitzten? Gewiss, die Zobelpelze waren weich und warm, der Honig süß, die Kerzen, die man aus dem mitgebrachten Wachs formen konnte, rochen gut. Aber aus den gekauften oder erbeuteten Gläsern tranken nur die Männer den gekauften oder erbeuteten Wein, nicht die Frauen.
    Nun suchte Runa den Vater vergebens im Kreise seiner Männer. Auf manch vertrautes Gesicht stieß sie, auf seines nicht. Mit einigen der Männer war sie aufgewachsen und schon als Kind im Fjord geschwommen, und sie hatten ihr nicht nur gezeigt, wie man sich auf der Wasseroberfläche hielt, sondern auch, wie man ein Messer benutzte, Fische briet und Hasen enthäutete. Was sie ihr nicht beigebracht hatten, war die Sehnsucht nach Fremde und Weite und den Hunger, andere Länder zu erforschen. Die jungen Männer hatten es kaum erwarten können, im Alter von zwölf Jahren erstmals mit auf Viking zu gehen. Runa hingegen fühlte sich im heimatlichen Fjord am wohlsten.
    Ein letztes Mal schrie die Kuh erbärmlich auf, dann riss der Schrei ab wie brüchig gewordenes Leder. Der mächtige Leib sackte zusammen, blieb warm und bebend liegen. Eine Blutlache ergoss sich über den schlammigen Boden, und die farblosen Augen, die Runa stets vertrauensselig angesehen hatten, starrten gebrochen ins Nichts. Einer der beiden Männer lachte. Er hatte der Kuh mit dem Messer die Kehle durchschnitten, und Blut war auf ihn gespritzt, doch das schien ihn nicht zu stören, vielmehr zu amüsieren. Sein Gesicht war Runa fremd. Weder war sie mit ihm im Fjord geschwommen noch hatte er von fernen Ländern geschwärmt, reichen und üppigen und fruchtbaren. Wahrscheinlich hatte der Vater ihn irgendwo im Süden auf sein Schiff genommen. Im Süden, so sagte der Vater, seien nicht nur tüchtige Männer zu finden, dort läge auch die Zukunft. Im heimatlichen Fjord stehe nichts anderes zu erwarten als Hunger und Tod und lange, bittere Winter, in denen die Pässe zugeschneit waren.
    Er begriff nicht, dass es noch so viel mehr gab: die Stille, die Klarheit, die Weite - zumindest, wenn keine Männer mit ihren Schiffen Lärm und Unruhe brachten.
    Die beiden Fremden stiegen achtlos über die geschlachtete Kuh hinweg und traten dabei grob gegen eines ihrer Hörner. Runa grub die Nägel in ihre Haut und schluckte mit Mühe die aufkommenden Tränen. Eine Kuh war kein Mensch, aber was zählte das, wenn man zu zweit in der Einsamkeit lebte und sonst keine Gefährten hatte? Und warum lachte dieser eine Mann, als wäre es lustig, Kühe zu töten? Blitzschnell begann er nun, sie zu enthäuten - mit einer Kraft, die ihm nicht anzusehen war. Sein Leib war dürrer und schmächtiger als der der anderen, sein Rücken gekrümmter, sein Haar, das bis in den Nacken fiel, schütter. Ihr Vater, das wusste Runa, hatte eine große Narbe auf der Schulter - bei diesem Fremden war das ganze Gesicht davon entstellt, als hätte irgendwann jemand versucht, ihm die Haut abzuziehen, so wie er es nun bei der Kuh tat. Er musste sich rechtzeitig dagegen gewehrt haben, und er musste trotz seiner schmächtigen Statur den Respekt der anderen
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