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Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Tochter des Nordens: Historischer Roman (German Edition)
Autoren: Julia Kröhn
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I.
    N ORVEGUR - DAS HEUTIGE N ORWEGEN F RÜHLING 910
    Eiskaltes Wasser schlug über Runa zusammen und nahm ihr die Luft zum Atmen. Sie war von einem kleinen Felsen in den Fjord gesprungen, den Körper gestrafft und die Arme weit ausgebreitet, als würde sie fliegen. Für einen Augenblick glaubte sie, dass sie es tatsächlich könnte. Vollkommen frei fühlte sie sich, und die Wasseroberfläche schien von oben betrachtet nicht dunkel und bedrohlich, sondern wie ein weiches Tuch. Doch die Kälte versetzte ihr einen Schlag, der noch schmerzhafter als der einer Faust war. Das Herz schien auszusetzen, der Körper auf immer gelähmt. Nicht nur das Tageslicht wurde vom Wasser verschluckt, sondern jeder Laut.
    Ja, still war das Reich vom Meeresgott Njörd und seine Umarmung sanft und gewaltig zugleich. Kurz dachte Runa, er würde sie nicht mehr loslassen, sie stattdessen in die Tiefe reißen, um alle Wärme aus ihr zu saugen. Doch mit gleicher Wucht, mit der die Kälte sie getroffen hatte, kehrte Leben in ihre Glieder zurück. Sie begann mit den Beinen gegen das Wasser zu treten, machte mit den Armen kreisende Bewegungen, und als sie auftauchte, stieß sie einen juchzenden, triumphierenden Schrei aus, der von den umliegenden schneebedeckten Bergen widerhallte. Weiter unten war der Schnee schon geschmolzen. Ein schmaler Streifen Wiese trennte den grauen Fels vom schwarzen Wasser, bräunlich und schlammig noch, ein zaghaftes Zeichen, dass der Winter vorüber war - der Winter, dessen Umarmung so leise sein konnte wie die von Njörd. Und ebenso tödlich.
    Trotz aller Gefahr: Runa mochte die Kälte, und sie mochte es, im Fjord zu schwimmen. Sobald keine Eisschollen mehr auf dem Wasser trieben und vor sich hin grummelten, als wären sie lebendige Wesen, sprang sie hinein. Ihre Großmutter Asrun klagte im Frühjahr stets, es sei noch zu kalt und zu gefährlich, und stand dann doch am Ufer, um ihr stolz zuzuwinken. Runa juchzte erneut, machte einige kräftige Schwimmstöße, blickte sich um.
    Niemand stand am Ufer.
    Runa erschauderte. Sie mochte nicht nur die Kälte und das Wasser, sondern auch die Einsamkeit des Fjords, doch nun stieg Unbehagen in ihr hoch. Warum war ihre Großmutter Asrun nicht hier? War sie ihr nicht eben noch nach draußen gefolgt und hatte auf sie eingeredet?
    Rasch schwamm Runa zum Ufer. So leicht es gewesen war, ins Wasser zu springen - so überaus mühsam erwies es sich, sich wieder aus den Fluten zu kämpfen. Runa rutschte auf den schlickigen Steinen aus, versank, kaum dass sie das Land erreicht hatte, im sumpfigen Gras. Beim Hochklettern klammerte sie sich an kleine Büsche, doch deren Äste waren brüchig oder faulig und hielten ihrem Gewicht nicht stand. Mitsamt der erdigen Wurzel rissen sie aus und ließen sie mehrmals zurück ins Wasser purzeln. Ihr Rücken und ihre Knie waren aufgeschürft, als Runa endlich den Felsvorsprung erreicht hatte.
    Ihre Kleidung lag unberührt dort, wo sie sie zurückgelassen hatte, und dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sich irgendetwas verändert hatte. Der Fjord, die Berge und die Siedlung waren die einzige Welt, die sie kannte, und manchmal vermeinte sie, ihren Herzschlag spüren zu können und ihren Atem zu hören. Beides ging nun unruhiger und schneller, so, als würde das Land wie sie erbeben. Ihre Haut war krebsrot und begann, in der kalten Luft zu brennen, ihr langes schwarzes Haar klebte schwer auf ihrem Rücken. Die Glieder, sehnig und muskulös, schienen wie steif gefroren. Rasch schlüpfte sie in die Kleidung - die Kleidung eines Mannes.
    Seit Runa mit Asrun ganz allein in der Siedlung lebte, weil die anderen Bewohner entweder auf Viking - auf Raub- oder Handelszügen - waren, verhungert oder vor Missernten geflohen, trug sie nicht länger das, was die Sitten vorschrieben, sondern was bei Jagd und Fischfang am wenigsten störte: eng anliegende Hosen und eine Tunika aus Wolle, Strümpfe mit Ledersohlen und darüber Schuhe aus Robbenhaut. Ihren knielangen Umhang befestigte sie an der rechten Schulter mit einer Brosche, ein kleines Messer an dem handbreiten Ledergürtel um die Taille. Ihre Hand fuhr zu dem Amulett, das sie um den Hals trug. Seit dem Tod ihrer Mutter, die es selbst ihr Leben lang getragen hatte, hatte sie es nie wieder abgelegt - auch nicht zum Schwimmen.
    Beunruhigt schlich Runa zurück zur Siedlung. Sie lebte mit Asrun in einem Langhaus, dem einzigen der Häuser, das nicht verfallen war. Vor kurzem noch vom Schnee begraben zerrte
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