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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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dich von Sarastro so quälen lassen?« Paminas Kopf sank auf die Schulter der Mutter, und sie ließ sich in ihren Armen wiegen. Sie schluchzte wie ein Kind, und ihre Mutter drückte sie an sich, wie sie es in Paminas Kindheit nie getan hatte.
    »Schon gut, schon gut, mein Kind, mein liebes Kleines. Es ist vorbei. Ich werde nicht zulassen, daß er dir noch einmal etwas zuleide tut.«
    Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich danach gesehnt, so gehalten, getröstet und geliebt zu werden. Jetzt endlich kam die Mutter, versprach ihr das alles, und es war zu spät! Pamina riß sich aus den Armen ihrer Mutter, und es schmerzte sie, als hätten die Krallen des Scheusals sich in ihr Herz geschlagen.
    Die Sternenkönigin berührte mit den Fingern sanft die Wunden an den Armen, und sie hörten auf zu bluten. Auch die Schmerzen schwanden. Sie strich über die häßliche Wunde unter dem Auge, und auch sie schloß sich.
    »Ich bin gekommen, um dich aus dieser schrecklichen Wüste zu holen und nach Hause zu bringen, Pamina. Vergiß nicht, du bist alles, was ich habe. Du bist meine Erbin, und eines Tages wirst du die Sternenkönigin sein. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich Sarastro und seinen Zauberkünsten überlassen? Jetzt ist alles ausgestanden. Komm, mein Liebes, nimm meine Hand, und wir sind wieder in unserer Stadt. Du bist kein Kind mehr, sondern eine Frau, die an meiner Seite herrschen soll.«
    Sie streckte die Hand aus, aber Pamina zögerte, trat einen Schritt zurück und starrte auf die Hand. Sie war glatt, faltenlos und ganz anders als das graue, müde und vom Alter ge-zeichnete Gesicht. Es war nicht die Hand der friedfertigen, kleinen Frau, die Hand ihrer alternden Mutter, die sie bemitleidete, sondern die Hand… bei dieser Erkenntnis rann Pamina ein Schauer über den Rücken… der Sternenkönigin!
    »Komm, komm«, sagte die Mutter mit leichter Ungeduld,
    »nimm meine Hand, Kind, oder ich kann dich nicht aus dieser Wüste wegbringen… Möchtest du denn nicht nach Hause?«
    Nach Hause… Pamina glaubte, sich noch nie im Leben mehr nach etwas gesehnt zu haben. Aber der Palast war nie ihr Zuhause gewesen. Besaß dort überhaupt etwas Wirklichkeit außer dem Bild ihrer Mutter, das sich durch alle Kind-heitserinnerungen zog? Und auch das war nicht wirklicher als alles andere. Pamina hatte sich nach dieser Zärtlichkeit gesehnt, und als man sie ihr entgegenbrachte, war sie leer und bedeutungslos geworden. Sie spürte und hörte in der Stimme ihrer Mutter, daß die Zärtlichkeit nur ein Mittel war, um sie dem Willen der Sternenkönigin gefügig zu machen.
    Pamina hörte, wie ihre Stimme zitterte, als sie erwiderte: »Du hast gedroht, mich zu verstoßen, mich nie mehr Tochter zu nennen, wenn ich nicht mit dem Blut meines Vaters an den Händen zu dir zurückkomme.«
    »Ich war zornig, Pamina. Kennst du keinen Zorn? Du bist jetzt eine Frau, verstehst du nicht, welche Macht der Zorn über einen Menschen haben kann?«
    Die mitleiderregenden Zeichen des Alters und der Trauer im Gesicht der Mutter rührten Pamina. Doch sie bekämpfte dieses Gefühl, denn sie wußte, daß die Sternenkönigin es ebenfalls als Waffe gegen sie einsetzen würde.
    »Das bedeutet, du willst mich wirklich wieder als deine Tochter aufnehmen, ohne daß Sarastro ein Leid geschieht?«
    »Pamina«, sagte ihre Mutter, »kann es sein, daß du die Wahrheit nicht ahnst? So wie du an Tamino gebunden bist, so ist Sarastro an mich gebunden. Wir sind die beiden Gesichter der Macht: Licht und Dunkel, Tag und Nacht, Wahrheit und Lüge, Leben und Tod. Ich habe von dir verlangt, daß du dich von ihm lossagst. Er hat dich aufgefordert, dich von mir los-zusagen. Wir haben dich beide auf die Probe gestellt, und jetzt mußt du über die falsche Trennung zwischen Dunkelheit und dem Tag hinauswachsen.« Wieder streckte sie Pamina die Hand entgegen. »Komm, schnell, mein Kind, solange noch Zeit ist, eine Wahl zu treffen.«
    Dies war die schmerzlichste Prüfung. Wie gerne würde sie aus ganzem Herzen glauben, daß sie Sarastro und der Wahrheit folgen konnte, ohne die Mutter zu verlieren, die sie immer noch schmerzlich liebte. Wie verlockend schien es, daran zu glauben, daß dies auch nur eine schwierige Probe war, um herauszufinden, ob sie die letzte Wahrheit erkennen würde: Ihre Mutter und Sarastro waren zwei Gesichter der Wahrheit – das Licht und die Dunkelheit, die sich verbanden.
    Dann müßte sie diese entsetzliche Entscheidung nicht treffen.
    »Schnell, Pamina! Nimm
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