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Tochter der Insel - Historischer Roman

Tochter der Insel - Historischer Roman

Titel: Tochter der Insel - Historischer Roman
Autoren: Jutta Oltmanns
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Schwester ist genauso treulos wie ihre Mutter«, fuhr die alte Frau fort. Ihr Atem ging schnell. Sie legte eine Hand aufs Herz. »Es ist am besten, wenn du sie vergisst. Rebekka hat mir nur Schande gemacht. Ich bin froh, dass du so ganz anders bist. Ein Glück, dass deine Schwester fort ist. Da kann sie dich nicht mehr auf den falschen Weg bringen.«
    Die alte Frau nahm die dunkle Kopfbedeckung und den Mantel von der Garderobe. Sie griff nach der Reisetasche und wandte sich ein letztes Mal zu Lea um.
    »Also, du weißt, was ich von dir erwarte!« Ihre Stimme war kalt wie ein Wintermorgen. Missbilligend musterte sie Leas dunkle Locken, die sich ungebändigt um das zarte Gesicht ringelten. »Binde dir das Haar ordentlich zusammen und denk an die Haube, wenn du rausgehst.«
    Lea sah der alten Frau nach, als sie das Haus verließ. Warum nur konnte Großmutter ihre Abneigung nicht ablegen? Den Insulanern begegnete sie mit einer gleichbleibenden Freundlichkeit. Auf Wangerooge hielt man große Stücke auf sie. Sie half, ohne zu fragen, wo es nötig war. Als nach den beiden Sturmfluten im Februar dieses Jahres zwei Häuser abgerissen werden mussten, hatte Großmutter die Obdachlosen kostenlos untergebracht und sie mit Lebensmitteln und Kleidung versorgt. Sie kümmerte sich um die Witwen, deren Männer auf See geblieben waren, und stand ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Ihre Meinung galt etwas auf der Insel und wenn jemand Geldsorgen hatte, dann half Großmutter, wo sie konnte.
    Doch all das täuschte Lea nicht darüber hinweg, dass sie ihr gegenüber stets kühl blieb. Sie hatte geglaubt, nach Rebekkas Abreise würde sich ihr Verhältnis bessern, aber das Gegenteil war der Fall. Voller Misstrauen beobachtete Großmutter jeden ihrer Schritte. Selbst die Zusammenkünfte mit dem alten Jannes Books, dem sie ab und zu eine kleine Freude machte und vorlas, hatte sie verboten. Lea seufzte traurig. Wie schön es wäre, nicht nur versorgt, sondern mit mütterlicher Herzlichkeit behandelt zu werden. Sie hatte versucht, eine Brücke zu schlagen, mit Großmutter zu reden, doch es war ihr nicht gelungen.
    Lea ging in die Küche und griff nach dem Teegeschirr. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, trat sie ans Fenster. Gedankenverloren musterte sie die weißen Wolken, die wie eine Schäfchenherde am Himmel vorbeizogen.
    Wenn sie nur wüsste, was Großmutter einmal im Monat nach Bremen trieb! Begonnen hatten die Besuche kurze Zeit, nachdem Rebekka verschwunden war. Rebekka! Lea biss sich verzweifelt auf die Lippen. Sie sollte hier sein, an ihrer Seite! Ohne Rebekka war das Haus so leer und kalt. Ihr Aufbruch war so plötzlich gekommen. Großmutter hatte vielleicht geglaubt, dass sie weinen oder zusammenbrechen würde, doch sie zwang sich aus Eigenschutz zu aufgesetzter Ruhe.
    Lea schob das Schiebefenster hoch und lehnte sich hinaus. Die frische Luft tat gut. Ein Windstoß wirbelte ihr Haar durcheinander. Sie strich mit den Fingern durch die dunkle Pracht. Nein, heute würde sie es nicht bändigen, sondern offen tragen.
    Seit sie fünf Jahre alt waren, hatte Großmutter ihr und Rebekka morgens stets einen Zopf geflochten. Dabei hatte sie das Haar so fest zusammengezogen, dass sich die Haut spannte und Lea Kopfschmerzen bekam.
    »Ihr seht sonst aus wie Zigeunerinnen«, war ihre lapidare Erklärung dafür gewesen, dass sie der Haarpracht jeden Morgen aufs Neue den Krieg erklärte. Schmerzhaft hatte sie den beiden Mädchen mit jedem Bürstenstrich klargemacht, wie sehr sie sich doch von den anderen Kindern auf der Insel unterschieden. Immer wieder, bis Lea sich wie ein Ungeheuer vorgekommen war mit ihrer dunklen Haut, dem unmöglichen blauschwarzen Haar und den braunen Augen in dem herzförmigen Gesicht. Und dann ihre Statur! Im Gegensatz zu den meisten Bewohnerinnen, die groß und stattlich waren, blieben die Schwestern klein und zierlich. Keines der Kleidungsstücke, die Großmutter kaufte, passte ihnen richtig.
    »Wir sehen aus wie Gespenster. Wie die Vogelscheuchen in deinem Garten«, hatte Rebekka kurz vor ihrem dreizehnten Geburtstag geklagt. »Du bist doch nicht arm. Ich wünsche mir ein Kleid, das nicht zu lang und zu weit ist. Kannst du uns nicht ein passendes schneidern lassen?«
    Es hatte kein Kleid zum Geburtstag gegeben. Einmal, als Rebekka vorschlug, ihre Sachen selbst zu ändern – sie war geschickt in solchen Dingen – , hatte Großmutter gezischt, dass Eitelkeit eine schwere Sünde sei.
    Lea versuchte, die
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