Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefes Land

Tiefes Land

Titel: Tiefes Land
Autoren: Carsten Steenbergen
Vom Netzwerk:
tiefes Koma, aus dem er erst einen Monat später wieder erwachte. Er litt seitdem unter schwerer Amnesie, die ihm alle Erinnerung an seine ersten zwölf Lebensjahre nahm.
    Die Magd Fanny Sullivan war am fünften August 1931 nicht zur Arbeit erschienen und blieb zwei Tage lang verschollen. Erst am frühen Morgen des dritten Tages wurde sie zuckend in der Hofzufahrt des damaligen Hogart-Anwesens gefunden, keine hundert Meter Luftlinie vom Shaden Forest entfernt. Da sie seit ihrer Geburt an Epilepsie litt, leitete man daraus eine Erklärung des Vorfalls ab. Der zuständige Arzt befand darauf, dass Fanny infolge eines Anfalls hilflos durch die Wälder draußen vor Porterville geirrt sei. Irgendwie habe sie dann zurückgefunden und sei schließlich auf der Hogart-Farm zusammengebrochen. Eine schlüssige Erklärung für den völligen Verlust ihres Seh- und Sprachvermögens stellte das allerdings nicht dar.

    Rechnete man nun Scott Harrison hinzu, so waren das fünf auffällig ähnliche Vorfälle, die sich alle in einem Areal von nur etwa zwei Quadratkilometern ereignet hatten: einem Waldstück nördlich von Beaver Creek, genannt Shaden Forest. Das konnte doch unmöglich ein Zufall sein.
    Beim weiteren Durchblättern von Falkners Akten fielen mir die Fotokopien einiger Buchseiten auf. Es handelte sich um den Ausschnitt eines Chronistenberichts aus dem vorigen Jahrhundert, betitelt mit ›Riten und Mythen der primitiven Völker‹. Der Autor schilderte verschiedene Bräuche und Sakralhandlungen nordamerikanischer Indianerstämme. Die kopierte Passage war den Seyota Nashekee gewidmet – einer nomadischen Untergruppe der Powhatan-Indianer, die diesen Landstrich bis etwa 1850 besiedelt hatten. Im Zentrum des Textes stand die Beschreibung der so genannten ›Nyata Te Aloan‹, ›Die Gabe an die Götter‹. Bei diesem seltsamen Ritus wurden neben Fisch- und Tierfleisch zuweilen auch Menschen geopfert, um die Launen der ›Erdväter‹ zu besänftigen. Der Legende der Seyota zufolge waren diese ›Väter‹ mächtige Dämonen, die in den Tiefen der Erde lebten und über das Schicksal jedes Menschen richteten.
    Zitat: »Das Opfer ward übergeben dem Erdreiche zum Dank an die Väter, welche mit der Gabe entschwanden und fortan Milde walten ließen.«
    Ein darunter abgedruckter zeitgenössischer Holzschnitt zeigte den Vollzug dieses Ritus’. Abgebildet war ein Schamane der Seyota, der das Opfer, ein offensichtlich bewusstloses oder totes Kind, den Erdvätern übergab. Diese glichen monströsen Tiermenschen, die aus der Erde zu wachsen schienen und ihre langen Krallen dem Kind entgegenstreckten. Ein wahrlich erschreckendes Szenario, doch zur Klärung der Vorfälle im Shaden Forest erschien mir eine abstruse Indianerlegende dann doch zu abwegig. Überhaupt machten die gesammelten Unterlagen den Eindruck, als habe sich Falkner in eine fixe Idee verrannt, die im Laufe der Monate immer stärker von ihm Besitz ergriffen hatte.
    Die Fülle seines Materials war allerdings beeindruckend. Am meisten schlug mich eine Geschichte aus der Zeit des Bürgerkriegs in ihren Bann:
    Der Vorfall ereignete sich im September 1862, kurz nachdem General Lee mit seiner konföderierten Nord-Virgina-Armee in Maryland einmarschiert war. Eine Vorausabteilung unter Führung des Brigadegenerals John Hood stieß in den Wäldern am Beaver Creek auf erbitterten Widerstand der Unionstruppen. In dem unübersichtlichen Gelände wurden die Truppenteile binnen kurzem weit auseinander gerissen. Plötzlich zog von Norden her ein heftiges Unwetter mit sintflutartigem Regen auf. Von einer Anhöhe aus beobachtete eine versprengte Gruppe Unionssoldaten, wie diese Unwetterwand direkt über einer konföderierten Artilleriestellung niederging.
    Der Regen war so stark, dass die Sicht auf den Gegner vollkommen verdeckt wurde. Nach wenigen Minuten verzog sich das Gewitter dann so schnell, wie es gekommen war. Doch an dem Ort, wo kurz zuvor noch etwa 60 Soldaten in Stellung gewesen waren, fanden sich nur noch verstreute Gewehre und verlassene Geschütze. Die gesamte Abteilung war wie vom Erdboden verschluckt. Später fand man eine abgerissene Pulverbüchse, in die offenbar in großer Hast ein Stück Papier gestopft worden war.
    Auf diesem stand in kaum leserlicher Schrift: »Gott möge unseren Seelen gnädig sein. Wir werden nicht zurückkommen.«
    Obwohl das Ereignis gemeldet wurde, ging dieser rätselhafte Vorfall in den Wirren der späteren berühmtberüchtigten Schlacht am
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher