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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden
Autoren: Nele Neuhaus
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Auguste Nowak in die Brust getroffen hatte! Wie lange war sie ohnmächtig gewesen? Ihr gefror das Blut in den Adern, als sie das Klicken hörte, mit dem hinter ihr die Pistole entsichert wurde. Pia wollte schreien, aber aus ihrem Mund kam nur ein heiseres Gurgeln. Ihr Innerstes verkrampftesich, und sie schloss die Augen. Wie würde es sein, wenn die Kugel den Schädelknochen durchschlug? Würde sie es spüren? Würde es weh tun? Würde ...
     
    »Pia!« Jemand packte sie an der Schulter, sie riss die Augen auf. Eine Welle der Erleichterung durchflutete ihren Körper, als sie in das Gesicht ihres Exmannes blickte. Pia hustete und griff sich an die Kehle.
    »Wie ... was ...«, krächzte sie verständnislos. Henning war leichenblass. Zu ihrer Überraschung schluchzte er auf und riss sie heftig in seine Arme.
    »Ich hatte so eine Angst um dich«, murmelte er in ihr Haar. »O Gott, du blutest ja am Kopf.«
    Pia zitterte am ganzen Körper, ihr Hals schmerzte, aber das Bewusstsein, dem Tod in letzter Sekunde entkommen zu sein, erfüllte sie mit einem beinahe hysterischen Glücksgefühl. Dann erinnerte sie sich an Elard Kaltensee und Auguste Nowak. Sie befreite sich aus Hennings Armen und richtete sich benommen auf. Kaltensee saß im Sand zwischen den Knochen seiner ermordeten Vorfahren und hielt seine Mutter in den Armen. Die Tränen strömten über sein Gesicht.
    »Mama«, flüsterte er. »Mama, du darfst jetzt nicht sterben ... bitte!«
    »Wo ist Anja Moormann?«, flüsterte Pia heiser. »Und der Kerl, den ich angeschossen habe?«
    »Der liegt da drüben«, erwiderte Henning. »Ich habe ihn mit der Taschenlampe niedergeschlagen, als er auf dich schießen wollte. Und dann ist die Frau abgehauen.«
    »Wo ist Miriam?« Pia wandte sich um und blickte in die schreckgeweiteten Augen ihrer Freundin.
    »Mir geht’s gut«, flüsterte sie. »Aber wir sollten für Frau Nowak einen Notarzt rufen.«
    Auf allen vieren kroch Pia zu Auguste Nowak und ihremSohn hinüber. Hier würde jeder Notarzt zu spät kommen. Auguste Nowak lag im Sterben. Ein schmaler Blutfaden rann aus ihrem Mundwinkel. Sie hatte die Augen geschlossen, atmete aber noch.
    »Frau Nowak«, Pias Stimme klang noch immer rau, »können Sie mich hören?«
    Auguste Nowak schlug die Augen auf. Ihr Blick war erstaunlich klar, ihre Hand tastete nach der ihres Sohnes, den sie damals genau an diesem Ort verloren hatte. Elard Kaltensee ergriff ihre Hand, sie seufzte tief. Nach mehr als sechzig Jahren hatte sich ein Kreis geschlossen.
    »Heini?«
    »Ich bin hier, Mama«, sagte Elard mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich bin bei dir. Du wirst wieder gesund. Alles wird gut.«
    »Nein, mein Junge«, murmelte sie und lächelte. »Ich sterbe ... Aber ... du darfst ... nicht weinen, Heini. Hörst du? Nicht weinen. Es ist ... gut so. Hier ... bin ich ... bei ihm ... bei meinem ... Elard.«
    Elard Kaltensee streichelte das Gesicht seiner Mutter.
    »Pass ... pass auf Marcus auf ... «, flüsterte sie und hustete. Blutiger Schaum trat auf ihre Lippen, ihr Blick wurde verschwommen. »Mein lieber Junge ...«
    Sie holte noch einmal tief Luft, dann seufzte sie. Ihr Kopf sank zur Seite.
    »Nein!« Elard hob ihren Kopf, zog den Körper der alten Frau fester in seine Arme. »Nein, Mama, nein! Du darfst doch jetzt nicht sterben!«
    Er schluchzte wie ein kleines Kind. Pia spürte, dass auch sie den Tränen nahe war. In einem Anfall von Sympathie legte sie Elard Kaltensee die Hand auf die Schulter. Er blickte auf, ohne seine Mutter loszulassen, das tränennasse Gesicht vom Schmerz verwüstet.
    »Sie ist in Frieden gestorben«, sagte Pia leise. »In den Armen ihres Sohnes und im Kreise ihrer Familie.«
     
    Marleen Ritter tigerte in dem kleinen Raum neben dem Verhörzimmer auf und ab wie ein Raubtier im Zoo. Hin und wieder blickte sie zu ihrem Vater hinüber, der durch eine Glasscheibe von ihr getrennt im Nachbarraum saß, reglos, mit leerem Blick und um Jahre gealtert. Er wirkte wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Erschüttert hatte Marleen begriffen, was sie all die Jahre nicht hatte erkennen wollen. Ihre Großmutter war nicht die gütige alte Dame, für die sie sie immer gehalten hatte, im Gegenteil! Sie hatte gelogen und betrogen, ganz nach Belieben. Marleen blieb vor der Glasscheibe stehen und starrte den Mann an, der ihr Vater war. Sein ganzes Leben lang hatte er den Launen seiner Mutter gehorcht, hatte alles getan, um sie zufriedenzustellen und ihre Anerkennung zu
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