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Themba

Themba

Titel: Themba
Autoren: Lutz van Dijk
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habe.
    »Themba...«, beginnt sie, »du bist für mich der wichtigste Mensch auf der Welt. Deshalb möchte ich auch, dass du alles von mir weißt. Ich will nicht, dass es dir jemand anders aus dem Kinderhaus erzählt.«
    Sie holt tief Luft, und in dieser Sekunde nehme ich mir vor, auf alles vorbereitet zu sein.
    Endlich stößt sie leise und mit gesenktem Blick hervor: »Es ist schon seit zwei oder drei Wochen, ganz genau kann ich es nicht sagen... Ich muss immer wieder an ihn denken und vor zwei Tagen haben wir offen miteinander gesprochen: Lebo aus dem Kinderhaus, also... er und ich, wir haben uns verliebt!«
    Wenn mir jemand zuvor erzählt hätte, dass meine kleine Schwester Nomtha sich jemals in einen anderen Mann verlieben würde, hätte ich wahrscheinlich spontan behauptet, dass das gar nicht möglich sei, weil... weil... da sind doch wir beide, das ist doch absolut perfekt, wieso soll da einer von uns jemand anderen nötig haben?
    Klar weiß ich im Hinterkopf, dass sie irgendwann, irgendwann eines fernen Tages vielleicht, wahrscheinlich, mit einem anderen Mann eine Familie gründen wird und dass ich dann als der ältere Bruder die Verhandlungen über die lobola , den Brautpreis, führen werde... irgendwann. Aber sie ist doch erst fünfzehn. Und ich liebe sie so sehr!
    Noch immer habe ich nicht geantwortet. Nomtha schiebt eine der brennenden Kerzen etwas zur Seite und legt eine Hand auf meinen Arm: »Themba, ich liebe dich mehr, als du denkst. Darum will ich dich auch nicht verlieren.«
    Jetzt bin ich es, der ihrem Blick ausweicht. Aber sie ist nicht mehr aufzuhalten.
    »Themba«, sagt sie mit der gleichen eindringlichen Stimme, »was verbirgst du vor mir?«
    Es kostet mich große Mühe, ihre Hand auf meinem Arm liegen zu lassen. Natürlich bemerkt sie mein leichtes Zittern. Aber jetzt geht es nicht mehr anders. Es gibt kein Zurück.
    »Nomtha...«, flüstere ich, »Nomtha, Luthando hat mich vergewaltigt, damals in jener Nacht, bevor wir weggelaufen sind. Damals, als ich so alt war wie du jetzt.«
    Es ist das erste Mal, dass ich es aussprechen kann, dass ich es denken kann, ohne sofort zu beben und zu schwitzen. Anfangs ist es, als hörte ich es einen andern sagen. Nur allmählich erkenne ich meine eigene Stimme wieder, wird alles, was ich Nomtha erzähle, erst wirklich zu meiner eigenen Geschichte.
    Nomtha hilft mir sehr. Was ich berichte, muss ihr Angst machen, aber sie denkt nicht zuerst an sich, sondern hört mir geduldig zu. Ab und zu nickt sie, und was vielleicht am wichtigsten ist: Sie zieht die ganze Zeit ihre Hand nicht zurück. Zuckt nicht einmal.
    Erst viel später spricht auch sie. Zögernd zunächst, aber doch klar. Dass sie sich lange Zeit nicht vorstellen konnte, dass wir es hier im fernen iKapa wirklich schaffen würden. Dass sie dankbar ist, dass wir Mutter so nah sein können, und dass sie erst seit kurzem wieder daran glauben kann, dass auch wir beide - sie und ich - wirklich glücklich werden können.
    »Irgendwann wird Mutter sterben, vielleicht sehr bald«, sagt sie. »Aber dann werden wir bei ihr sein.« Und nach einer langen Pause fügt sie hinzu: »Ich möchte, dass du dein Blut testen lässt.«
    Ich weiß, dass sie das sagt, weil sie mich liebt. Egal wie das Ergebnis sein wird. Und ich weiß plötzlich, dass es für mich gar keinen anderen Weg geben kann. Die besten Entscheidungen sind die, die nicht mehr gefällt zu werden brauchen. Ob ich das HI-Virus im Blut habe oder nicht - ich werde leben, wie ich endlich zu leben begonnen habe. Und ich werde Nomtha haben, die zu mir steht so wie ich zu ihr.
    Die Kerzen sind beinah zur Hälfte heruntergebrannt, als wir uns erheben.
    Wenig später ruft Nomtha aus der kleinen Küche: »Hast du denn gar keinen Hunger?«
    Ich lache. »Wie eine ganze Löwenmeute!«
    Zum ersten Mal in meinem Leben versuche ich, den Korken aus einer Weinflasche zu ziehen. Es gelingt erst nach mehreren Kraftakten und der Wein schmeckt uns beiden überhaupt nicht.

    Aber so ist das doch, Andile, oder? Die Wirklichkeit macht uns nur als die ganze Wirklichkeit stark. Da können zu der Wirklichkeit ruhig auch ein paar Geister unserer Vorfahren gehören, wie du und Nomtha glauben.
    Jedenfalls bin ich in dieser Nacht zwei Antworten auf deine Fragen so nah wie nie zuvor im Leben: Ich weiß, dass Nomtha für mich immer der wichtigste Mensch bleiben wird. Aus dem einfachen Grunde, weil sie mir hilft, ich selbst zu sein, und weil sie zu mir steht, egal was ich in der Vergangenheit
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