Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tea-Bag

Tea-Bag

Titel: Tea-Bag
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Vielleicht, sie war sich nicht sicher.
    - Schweden?
    - Skandinavien. Nordeuropa. Wir kommen von dort. Wir wollen eine Artikelserie über Menschen ohne Gesicht schreiben. Flüchtlinge, die verzweifelt versuchen, nach Europa zu gelangen. Wir vertreten deine Sache. Wir wollen, daß du wieder ein Gesicht bekommst.
    - Ich habe bereits ein Gesicht. Was fotografiert er denn, wenn ich kein Gesicht habe? Kann man lächeln ohne Zähne, ohne Mund? Ich brauche kein Gesicht. Ich brauche eine Tür.
    - Eine Tür? Einen Ort, wo du bleiben kannst? Wo du willkommen bist? Genau aus diesem Grund haben wir die Reise hierher gemacht. Damit du einen Ort findest, wo du bleiben kannst.
    Tea-Bag versuchte die Worte zu verstehen, die an ihre Ohren drangen. Jemand, der ihre Sache vertrat? Welche Sache? Der große Mann, der dauernd zu schwanken schien, hatte bestimmt eine Tür im Rücken, die er ihr noch nicht gezeigt hatte.
    - Wir möchten, daß du uns deine Geschichte erzählst, sagte er. Die ganze Geschichte. So viel davon, wie du in Erinnerung hast.
    - Wozu?
    - Weil wir sie weitererzählen wollen.
    - Ich will eine Tür. Ich will hier raus.
    - Genau darüber werde ich schreiben.
    Später sollte Tea-Bag denken, daß sie eigentlich nicht verstanden hatte, wieso sie dem schwankenden Mann vertraute, der ihr all diese Fragen stellte. Aber irgend etwas hatte ihr gesagt, daß sich ihr tatsächlich langsam eine Tür öffnete. Vielleicht hatte sie es gewagt, sich auf ihre Intuition zu

verlassen, fest mit beiden Füßen auf dem Boden stehend, genau wie ihr Vater es sie gelehrt hatte, ihr einziges Erbe von ihm. Vielleicht hatte es daran gelegen, daß der Mann, der die Fragen stellte, sich tatsächlich dafür zu interessieren schien, was sie antwortete. Oder daß er keine geröteten, müden Augen hatte. Jedenfalls hatte sie einen Entschluß gefaßt, hatte gesagt: Ja, sie wolle erzählen.
    Sie waren in Fernandos Büro gegangen, wo die schmutzige Teetasse sie daran erinnerte, wie sie zu ihrem Namen gekommen war - aber davon sagte sie nichts; sie hatte mit dem angefangen, was tatsächlich wahr rar, daß sie irgendwo, in einem Land, dessen Namen sie nicht mehr wußte, einen Vater gehabt hatte, den sie nicht vergessen hatte, und der eines Morgens von Militärs abgeführt worden war, um nie wieder zurückzukehren. Ihre Mutter war drangsaliert worden, weil sie zur falschen Gruppe von Menschen gehörten, als eine andere Gruppe vor Menschen an der Macht war, und ihre Mutter hatte ihr geboten zu fliehen, und sie hatte ihr gehorcht. Sie ließ Teile ihrer Geschichte aus und sagte nichts von dem italienischen Ingenieur und wie sie sich an ihn verkauft hatte, um Geld für die Fortsetzung der Flucht zu bekommen. Sie behielt ebenso viele Geheimnisse für sich wie sie preisgab. Aber sie merkte, wie sie von ihrer eigenen Erzählung ergriffen wurde, sie sah, daß der Mann, der seinen kleinen Kassettenrecorder vor sie hingestellt hatte, ebenfalls ergriffen war, und als sie zu der furchtbaren Nacht im Laderaum kam, fing sie an zu weinen.
    Sie hatte über vier Stunden erzählt, bis die Worte versiegten. Ab und zu hatte sich Fernand in der Tür gezeigt, und da hatte sie sogleich die Worte über das »humane Wohlwollen« in den Satz eingeschmuggelt, den sie gerade beendete. Und es war, als hätte der Mann, der ihr zuhörte, verstanden, daß sie ihm ein geheimes Signal sandte.
    Dann war es vorbei.

Der Mann, der seinen Kassettenrecorder einpackte, hatte ihr keinen Weg aus dem Lager eröffnet. Aber sie hatte trotzdem eine Tür bekommen. Den Namen eines Landes in weiter Ferne: Schweden. Dort gab es Menschen, die gerade ihre Späher zu ihr ausgesandt hatten.
    Sie begleitete sie bis zum streng bewachten Tor des Lagers. - Heißt du nur Tea-Bag? fragte er. Hast du keinen Nachnamen?
    - Noch nicht.
    Er sah sie fragend an, aber er lächelte, und der Mann mit der Kamera bat einen der Wächter, ein Aufnahme zu machen, auf der sie Tea-Bag in die Mitte nahmen.
    Es war einer der letzten Tage des Jahrhunderts.
    Gegen Nachmittag begann der Regen wieder zu fallen. An diesem Abend saß Tea-Bag auf ihrem Bett und stemmte die Fußsohlen lange und fest gegen den kalten Boden des Zeltes. Schweden, dachte sie. Da will ich hin. Da muß ich hin. Dort habe ich mein Ziel.

2
    J esper
    Humlin, der zu den erfolgreichsten Autoren seiner Generation zählte, war mehr um seine Sonnenbräune besorgt als um den Inhalt seiner oft schwer deutbaren Gedichtsammlungen, die er jährlich veröffentlichte, immer mit dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher