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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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fragte, ob alles in Ordnung sei.
    »Du könntest auch unten mit uns essen«, sagte er, was aber nicht besonders überzeugend klang, denn er ließ Mariam allzu bereitwillig gewähren, wenn sie sagte, dass sie lieber allein essen wolle.
    Mit Blick aus dem Fenster nahm Mariam teilnahmslos zur Kenntnis, was sie all die Jahre sehnsüchtig zu sehen gehofft hatte: die alltäglichen Lebensumstände ihres Vaters. Dienstboten kamen und gingen durch die Außenpforte. Ein Gärtner beschnitt die Sträucher und wässerte die Pflanzen im Treibhaus. Elegante Limousinen fuhren auf der Straße vor. Ihnen entstiegen Männer in Anzügen, chapan und Krimmermütze, hijab -tragende Frauen und Kinder mit ordentlich gekämmten Haaren. Mariam sah, wie Jalil all diesen Fremden die Hand schüttelte und sich, die Hände auf der Brust überkreuzt, vor ihren Frauen verneigte, und wusste, dass Nana recht behalten hatte. Sie, Mariam, gehörte nicht hierher.
    Aber wohin gehöre ich? Was soll ich jetzt tun?
    Ich bin alles, was du auf dieser Welt hast, Mariam, und wenn ich gegangen bin, wirst du nichts haben. Rein gar nichts. Du bist ein Nichts!
    Wie der Wind in den Weiden vor der kolba stürmten ihr Böen unsäglicher Niedergeschlagenheit durch den Sinn.
    Am zweiten Tag in Jalils Haus suchte sie ein kleines Mädchen in ihrem Zimmer auf.
    »Ich muss etwas holen«, sagte sie.
    Mariam saß, die Beine überkreuzt, auf dem Bett und zog sich die Decke über den Schoß.
    Das Mädchen eilte durch den Raum, öffnete die Schranktür und brachte einen grauen, würfelförmigen Karton zum Vorschein.
    »Weißt du, was darin ist?«, fragte sie und öffnete den Karton. »Ein Plattenspieler. So nennt man das. Platten. Spieler. Für Schallplatten. Da ist Musik drauf, verstehst du?«
    »Du bist Niloufar. Acht Jahre alt.«
    Das Mädchen lächelte. Es hatte Jalils Lächeln und das gleiche Grübchen im Kinn. »Woher weißt du das?«
    Mariam zuckte mit den Achseln. Sie sagte dem Mädchen nicht, dass sie einmal einen Kieselstein nach ihm benannt hatte.
    »Willst du mal ein Lied hören?«
    Wieder zuckte Mariam mit den Achseln.
    Niloufar steckte den Stecker des Plattenspielers in die Dose und fischte eine kleine Schallplatte aus einer Tasche unter dem Kartondeckel. Sie legte die Platte auf und senkte die Nadel. Musik ertönte.
Ich nehm mein Blatt Papier
und schreibe dir den süßesten Brief,
du bist der Sultan meines Herzens,
der Sultan meines Herzens.
    »Kennst du’s?«
    »Nein.«
    »Es ist aus einem iranischen Film. Den hab ich im Kino meines Vaters gesehen. He, soll ich dir mal was zeigen?«
    Ehe Mariam antworten konnte, hatte Niloufar die Hände auf den Boden gestützt, sich mit den Füßen abgestoßen und kopfüber aufgerichtet, so dass sie auf der Stirn zu stehen kam.
    »Schaffst du das auch?«, fragte sie stolz.
    »Nein.«
    Niloufar ließ die Beine auf den Boden zurückfallen und zog ihr Hemd zurecht. »Ich könnte es dir beibringen«, sagte sie, indem sie eine Strähne von der geröteten Stirn wischte. »Wie lange bleibst du hier?«
    »Weiß ich nicht.«
    »Meine Mutter sagt, du wärst keine richtige Schwester von mir, wie du behauptest.«
    »Das habe ich nie behauptet«, log Mariam.
    »Sie sagt, doch. Ist aber auch egal. Ich meine, es macht mir nichts aus, wenn du das behauptest. Und ich hätte auch nichts dagegen, wenn du meine Schwester wärst.«
    Mariam streckte sich auf dem Bett aus. »Ich bin müde.«
    »Meine Mutter sagt, ein Dschinn hätte deine Mutter dazu gebracht, sich aufzuhängen.«
    »Du kannst das jetzt ausstellen«, sagte Mariam und drehte sich zur Seite. »Die Musik, meine ich.«
    Am selben Tag kam auch Bibi jo , um sie zu sehen. Draußen hatte es inzwischen zu regnen angefangen. Sie senkte ihren schweren Körper auf den Stuhl neben dem Bett und verzog das Gesicht.
    »Dieser Regen ist Gift für meine Gelenke, Mariam jo . Der bringt mich noch um, das sage ich dir. Ich hoffe … Oh, komm, mein Kind. Komm zu Bibi jo . Weine nicht. Armes Ding. Ts, ts. Du armes, armes Ding.«
    In dieser Nacht konnte Mariam lange nicht einschlafen. Sie lag im Bett, starrte an die Decke, lauschte den Schritten im Haus, den von den Wänden gedämpften Stimmen und den Regenschauern vorm Fenster. Kaum war sie endlich eingeschlafen, wurde sie durch lautes Rufen aufgeweckt. Stimmen, unten im Erdgeschoss, scharf und zornig. Mariam verstand kein Wort. Jemand knallte eine Tür zu.
    Am nächsten Morgen kam Mullah Faizullah zu Besuch. Als Mariam ihren Vertrauten mit dem weißen Bart
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