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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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und dem freundlichen zahnlosen Lächeln in der Tür sah, traten ihr wieder Tränen in die Augen. Sie schwang ihre Beine über die Bettkante und eilte auf ihn zu, küsste wie immer seine Hand und bekam wie immer von ihm einen Kuss auf die Stirn. Sie rückte ihm einen Stuhl zurecht.
    Er zeigte ihr den Koran, den er für sie mitgebracht hatte, und schlug ihn auf. »Ich dachte mir, es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass wir unseren Unterricht nicht fortsetzen sollten, oder?«
    »Sie wissen doch, dass ich keinen Unterricht mehr brauche, Mullah sahib . Sie haben mir schon vor Jahren alle Suren und Ayat aus dem Koran beigebracht.«
    Er lächelte und hob die Hände, als gäbe er sich geschlagen. »Dann bin ich wohl überführt. Aber ich könnte mir schlechtere Vorwände für einen Besuch bei dir vorstellen.«
    »Dazu brauchen Sie keinen Vorwand. Sie nicht.«
    »Das ist lieb von dir gesagt, Mariam jo .«
    Er reichte ihr das Buch, damit sie es, wie er es ihr beigebracht hatte, dreimal küsste und zwischen jedem Kuss zur Stirn führte. Dann gab sie es ihm zurück.
    »Wie geht es dir, mein Mädchen?«
    »Ich muss …« Sie stockte. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. »Ich muss immer wieder an das denken, was sie gesagt hat, bevor ich gegangen bin. Sie …«
    »Na, na, na.« Mullah Faizullah legte ihr eine Hand aufs Knie. »Deine Mutter, möge Allah ihr verzeihen, war eine unglückliche Frau voller Probleme, Mariam jo . Was sie getan hat, ist schrecklich. Sich selbst und dir gegenüber und nicht zuletzt auch gegenüber Allah. Er wird ihr verzeihen, denn Er ist der Allesvergebende. Aber Er ist auch traurig, denn es gefällt Ihm nicht, dass sich jemand am Leben vergreift, ob am eigenen oder dem eines anderen. Er sagt, das Leben ist heilig. Siehst du …« Er rückte mit dem Stuhl näher an sie heran und umfasste ihre beiden Hände. »Siehst du, ich kannte deine Mutter schon, bevor du zur Welt gekommen bist, und schon damals war sie sehr unglücklich. Ich fürchte, die Ursache für das, was sie getan hat, liegt weit zurück. Damit will ich sagen, dass es nicht deine Schuld war. Es war nicht deine Schuld, mein Mädchen.«
    »Ich hätte sie nicht verlassen dürfen. Ich hätte …«
    »Hör auf damit. Solche Gedanken führen zu nichts, Mariam jo . Hörst du? Sie quälen dich nur. Es war nicht deine Schuld. Es war nicht deine Schuld. Nein.«
    Mariam schniefte und nickte, doch sosehr sie es auch wünschte, sie konnte seinen Worten nicht glauben.
    Eines Nachmittags, eine Woche später, klopfte es an der Tür, und eine große Frau trat ein. Sie hatte eine helle Haut, rötliches Haar und lange Finger.
    »Ich bin Afsoon«, sagte sie, »Niloufars Mutter. Warum wäschst du dich nicht, Mariam, und kommst nach unten?«
    Mariam antwortete, dass sie lieber in ihrem Zimmer bleibe.
    »Nein, na fahmidi , du verstehst falsch. Du musst nach unten kommen. Wir haben mit dir zu reden. Es ist wichtig.«

7
    Jalil und seine Frauen saßen ihr an einem langen dunkelbraunen Tisch gegenüber. Zwischen ihnen, in der Mitte des Tisches, standen eine Kristallvase mit frischen Ringelblumen und eine mit Wasser gefüllte Karaffe, von der Tropfen perlten. Afsoon, die rothaarige Frau, die sich ihr als Niloufars Mutter vorgestellt hatte, saß rechts von Jalil, die beiden anderen, Khadija und Nargis, links. Alle drei trugen einen dünnen schwarzen Schal, nicht etwa über dem Kopf, sondern lose im Nacken, wie einen nachträglichen Einfall. Mariam konnte sich nicht vorstellen, dass sie um Nana trauerten, und glaubte vielmehr, dass eine von ihnen oder vielleicht auch Jalil vorgeschlagen hatte, für das anstehende Gespräch mit der Hinterbliebenen etwas Schwarzes anzulegen.
    Afsoon schüttete Wasser aus der Karaffe in ein Glas und stellte es vor Mariam auf einen kariert gemusterten Untersetzer. »Erst Frühling und schon so warm«, sagte sie und fächelte sich mit der Hand Luft zu.
    »Hast du alles, was du brauchst?«, fragte Nargis, die ein kleines Kinn und schwarzes lockiges Haar hatte. »Wir hoffen, dass es dir hier gut ergangen ist. Die letzte Zeit muss hart für dich gewesen sein, sehr hart.«
    Die beiden anderen nickten. Mariam betrachtete ihre Augenbrauen, das dünne tolerante Lächeln, das sie ihr schenkten. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihre Kehle brannte. Sie trank einen Schluck Wasser.
    Im großen Fenster hinter Jalil sah Mariam eine Reihe blühender Birnbäume. Vor der Wand neben dem Fenster befand sich eine Vitrine aus dunklem Holz. Darauf
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