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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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sich. Hamza tritt ihr entgegen. Er hält eine Dose in den Händen.
    »Die hat Jalil Khan meinem Vater gegeben, ungefähr einen Monat bevor er starb«, sagt er. »Er bat ihn, sie in Verwahrung zu nehmen und Mariam auszuhändigen, falls sie irgendwann einmal kommen sollte. Zwei Jahre später, kurz vor seinem Tod, hat mir mein Vater diese Dose anvertraut, mit der Bitte, sie für Mariam aufzubewahren. Aber … Sie wissen ja, sie ist nie gekommen.«
    Laila betrachtet die ovale Blechdose, eine alte Bonbonniere, wie es scheint. Sie ist olivgrün und am Rand des zerkratzten Deckels mit goldenen Ornamenten verziert. Die Seiten haben ein paar Rostflecken, und am vorderen Rand des Deckels sind zwei kleine Dellen zu sehen.
    Laila nimmt die Dose entgegen und versucht, sie zu öffnen, doch der Deckel ist verschlossen.
    »Was ist da drin?«, fragt sie.
    Hamza reicht ihr einen Schlüssel. »Wir haben nie nachgeschaut. Ich vermute, es ist Gottes Wille, dass Jalils Hinterlassenschaft für Mariam nun an Sie übergeht.«
    Tarik und die Kinder sind noch unterwegs, als Laila ins Hotel zurückkommt.
    Sie setzt sich auf das Bett und legt die Dose in den Schoß. Sie zu öffnen und Jalils Geheimnis zu lüften widerstrebt ihr, doch die Neugier setzt sich durch. Sie steckt den Schlüssel ins Schloss. Es klemmt ein wenig, springt aber schließlich auf.
    In der Dose befinden sich ein Brief, ein Beutel aus Sackleinen und eine Videokassette.
    Mit der Kassette geht Laila hinunter zur Rezeption, wo ihr der ältliche Portier, der sie am Vortag in Empfang genommen hat, mitteilt, dass es im Hotel nur einen Rekorder gebe, in der größten Suite, die zurzeit jedoch nicht belegt sei. Der Portier erklärt sich bereit, sie hinzuführen. Er lässt sich von einem jungen, Anzug tragenden Mann mit Schnauzbart vertreten, der ein Funktelefon am Ohr hält.
    Der Portier führt Laila in den zweiten Stock und durch einen langen Flur an eine Tür. Er schließt auf und lässt sie eintreten. Laila sieht den Fernseher in der Ecke stehen. Für alles andere hat sie keinen Blick.
    Sie schaltet Fernseher und Rekorder ein, legt die Kassette ein und drückt auf Wiedergabe. Der Bildschirm bleibt für eine Weile schwarz, und Laila fragt sich schon, warum Jalil seiner Tochter ein unbespieltes Band hinterlassen hat. Dann aber ist Musik zu hören; auf der Mattscheibe erscheinen Bilder.
    Laila legt die Stirn in Falten. Nach einer oder zwei Minuten hält sie das Band an, lässt es schnell vorlaufen und drückt erneut auf Wiedergabe. Es ist immer noch derselbe Film.
    Der alte Mann schaut sie fragend an.
    Zu sehen ist Walt Disneys Pinocchio . Laila versteht nicht.
    Kurz nach sechs kehrt Tarik mit den Kindern ins Hotel zurück. Aziza läuft auf Laila zu und zeigt ihr die Ohrringe, die Tarik ihr gekauft hat: emaillierte Schmetterlinge in silberner Fassung. Zalmai hält einen Delfin in den Händen, der quietscht, wenn man ihm aufs Maul drückt.
    »Wie geht’s dir?«, fragt Tarik und legt ihr einen Arm um die Schulter.
    »Bestens«, antwortet Laila. »Ich berichte dir später.«
    Sie gehen in ein nahe gelegenes Kebab-Haus, um zu Abend zu essen. Der kleine Gastraum ist verraucht und laut; die Plastikdecken auf den Tischen sind klebrig. Aber das Lammfleisch ist zart und saftig, das Brot frisch gebacken. Nach dem Essen bummeln sie noch eine Weile durch die Straßen. Tarik spendiert den Kindern Rosenwassereis, das er einem Straßenhändler abkauft. Sie machen es sich auf einer Bank bequem; die Berge im Rücken ragen dunkel in den scharlachroten Abendhimmel auf. Die warme Luft ist von Zedernduft erfüllt.
    Nachdem sie sich das Video angesehen hatte, war Laila auf ihr Zimmer zurückgegangen, wo sie den Briefumschlag öffnete. Darin steckten mehrere Blätter linierten gelben Papiers, mit blauer Tinte von Hand beschrieben.
    Darauf stand zu lesen:
    13. Mai 1987
    Meine liebe Mariam,
    ich hoffe, der Brief erreicht Dich bei guter Gesundheit.
    Wie Du weißt, bin ich vor einem Monat in Kabul gewesen, in der Hoffnung, Dich sprechen zu können. Aber Du wolltest mich nicht sehen. Ich war enttäuscht, kann Dir aber keinen Vorwurf machen. An Deiner Stelle hätte ich mich wahrscheinlich ähnlich verhalten. Ich habe das Privileg Deiner Gunst vor langer Zeit verloren, und dafür trage ich die Schuld allein. Aber wenn Du diese Zeilen liest, hast Du auch gelesen, was in dem Brief stand, den ich Dir vor die Haustür gelegt habe. Du hast ihn gelesen und Mullah Faizullah aufgesucht, worum ich Dich gebeten habe.
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