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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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haben. Was sie dann sieht, ist noch kleiner als in ihrer Vorstellung. Von den Bodendielen sind nur ein paar morsche Bretter übrig geblieben. Der Rest ist wahrscheinlich, so glaubt sie, zum Verfeuern herausgerissen worden. Trockenes Laub und Glasscherben, Kaugummipapier, Pilze und gelbe Zigarettenstummel bilden nun einen Teppich, aus dem Unkraut wuchert. Manches davon ist verkümmert, doch einige Triebe ranken an den Wänden hoch.
    Fünfzehn Jahre, denkt Laila. Fünfzehn Jahre an diesem Ort.
    Sie setzt sich mit dem Rücken zur Wand auf den Boden und lauscht dem Wind in den Weiden. Die Decke ist von Spinnweben überzogen. Jemand hat mit einer Sprühdose einen Schriftzug über die Wand gesprayt, der aber verblichen und nicht mehr zu entziffern ist. Es handelt sich, wie sie dennoch feststellen kann, um kyrillische Zeichen. In einer Ecke liegt ein verwaistes Vogelnest. Im Winkel zwischen Wand und Decke hängt eine Fledermaus.
    Laila schließt die Augen.
    In Pakistan war es ihr nur schwer möglich, sich Mariams Gesicht mit all seinen Merkmalen in Erinnerung zu rufen. Manchmal blieb ihr Bild abstrakt wie ein Wort, das einem auf der Zunge liegt. Hier aber, an diesem Ort, sieht sie Mariam klar und deutlich vor Augen: ihren sanften Blick, das längliche Kinn, die raue Haut im Nacken, das schmallippige Lächeln. Hier kann Laila wieder ihren Kopf auf Mariams Schoß legen, spüren, wie sie, vor- und zurückschaukelnd, Verse aus dem Koran zitiert, wobei ihre Worte im ganzen Körper widerhallen.
    Plötzlich verschwindet das Unkraut, wie von Geisterhand zurück in die Erde gezogen, bis auch der letzte Trieb vom Boden der kolba verschluckt ist. Auf geheimnisvolle Weise entspinnt sich das Spinngewebe. Das Vogelnest zerfällt in seine Bestandteile, die eins ums andere zum Fenster hinausfliegen. Ein unsichtbarer Radiergummi löscht das russische Graffito von der Wand.
    Die Bodendielen kehren zurück. Laila sieht nun zwei Schlafstellen, einen Holztisch, zwei Stühle, in der Ecke einen gusseisernen Ofen, Regalbretter entlang den Wänden, darauf Tongefäße und Pfannen, einen verrußten Teekessel, Tassen und Löffel. Draußen hört sie Hühner gackern, das Gurgeln des Flusses in der Ferne.
    Mariam sitzt als junges Mädchen am Tisch und bastelt im Licht einer Öllampe eine Puppe aus Stoff. Sie summt eine Melodie vor sich hin. Ihr Gesicht ist glatt, das Haar gewaschen und zurückgekämmt. Sie hat noch all ihre Zähne.
    Laila beobachtet sie dabei, wie sie der Puppe Wollfäden an den Kopf klebt. In ein paar Jahren wird das Mädchen eine Frau sein, die eigene bescheidene Ansprüche an das Leben stellt, ohne irgendeinem Menschen zur Last zu fallen. Sie wird niemanden mit ihren Sorgen, Nöten und Enttäuschungen behelligen. Sie wird eine Frau sein, die klaglos duldet und gleich einem Fels im Flussbett den Turbulenzen, die über sie hinweggehen, standhält und Gestalt annimmt. Schon jetzt erkennt Laila hinter den Augen des Mädchens jenen festen inneren Kern, den weder Raschid noch die Taliban zu brechen vermögen. Er wird ihr am Ende selbst zum Verhängnis und wird Lailas Rettung bewirken.
    Das Mädchen blickt auf, legt die Puppe nieder und lächelt.
    Laila jo ?
    Laila zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Von ihr aufgeschreckt, schwirrt die Fledermaus durch die kolba . Ihre Flügel flattern wie Buchseiten. Sie fliegt zum Fenster hinaus.
    Laila steht auf und klopft sich das Laub vom Hosenboden. Sie tritt nach draußen. Die Sonne ist ein Stück weitergerückt. Der Wind hat zugenommen. Das Gras wogt und die Zweige der Weiden schlagen aneinander.
    Bevor sie die Lichtung verlässt, wirft Laila einen letzten Blick auf die kolba , in der Mariam geschlafen, gegessen, geträumt und bangend auf Jalil gewartet hat. Die Weiden werfen ein bizarres Schattenmuster auf die bröckelnden Wände der Hütte. Auf dem Flachdach hat sich eine Krähe niedergelassen. Sie pickt, krächzt und fliegt davon.
    »Adieu, Mariam.«
    Laila tritt den Rückweg an; sie bemerkt nicht, dass ihr Tränen fließen.
    Hamza sitzt immer noch unter der Pappel. Er steht auf, als er sie kommen sieht.
    »Fahren wir«, sagt er. Dann: »Ich habe Ihnen noch etwas zu geben.«
    Laila wartet auf Hamza draußen im Garten. Der Junge, der ihnen Tee serviert hat, steht mit einem Huhn im Arm unter einem der Feigenbäume und beobachtet sie mit ausdrucksloser Miene. Hinter einem Fenster entdeckt Laila zwei Gesichter, das einer alten und das einer jungen Frau. Beide tragen hijab .
    Die Haustür öffnet
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