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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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begegnen. Nana würde sie eine Verräterin schimpfen und sich über die törichten Wünsche der Tochter lustig machen.
    Um sich die Zeit zu vertreiben, setzte sich Mariam an den Tisch und versuchte, einen Elefanten zu zeichnen, so wie Jalil es ihr gezeigt hatte, mit einem einzigen Strich. Immer und immer wieder. Vom langen Sitzen schmerzte ihr Rücken, doch um das Kleid nicht zu zerknittern, verzichtete sie darauf, sich auszustrecken.
    Als die Zeiger schließlich auf halb elf standen, steckte Mariam ihre elf Kieselsteine ein und ging nach draußen. Auf dem Weg zum Fluss sah sie Nana unter dem gewölbten Laubdach der Trauerweide auf einem Stuhl sitzen. Es war nicht zu erkennen, ob ihre Mutter sie im Auge hatte oder nicht.
    Am Flussufer angekommen, wartete Mariam an der tags zuvor verabredeten Stelle. Über den Himmel zogen ein paar graue, blumenkohlförmige Wolken. Jalil hatte ihr erklärt, dass solche Wolken deshalb grau scheinen, weil ihre dichten oberen Schichten das Sonnenlicht schlucken und einen Schatten auf die unteren Schichten werfen. »Das, was du siehst, Mariam jo «, hatte er hinzugefügt, »ist ihr dunkler Unterleib.«
    Es verstrich einige Zeit.
    Mariam kehrte zur kolba zurück. Diesmal folgte sie dem Westrand der Lichtung, um Nana aus dem Weg zu gehen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor eins.
    Er ist ein Geschäftsmann, dachte Mariam. Irgendetwas hat ihn aufgehalten.
    Sie ging wieder zum Fluss und wartete. Schwarzdrosseln flatterten durch die Luft und tauchten dann irgendwo im Gras unter. Sie sah einer Raupe zu, die über die Wurzel einer jungen Distel kroch.
    Sie wartete, bis ihr die Beine wehtaten. Doch diesmal kehrte sie nicht zur kolba zurück. Sie krempelte sich die Hosenbeine hoch, überquerte den Fluss und marschierte zum ersten Mal in ihrem Leben talwärts Richtung Herat.
    Nana irrte auch, was Herat betraf. Keiner zeigte mit dem Finger auf Mariam. Keiner lachte sie aus. In einem nicht abreißenden Strom von Fußgängern, Fahrradfahrern und Maultier- garis schlenderte sie durch zypressengesäumte Alleen, und da war niemand, der sie mit einem Stein beworfen hätte. Keiner nannte sie einen harami . Es nahm sie überhaupt kaum jemand zur Kenntnis. Sie war hier, unerwarteter- und wunderbarerweise, eine ganz gewöhnliche Person.
    Inmitten eines großen Parks verbrachte Mariam eine Weile vor einem ovalförmigen Teich. Staunend betastete sie eines der wunderschönen Marmorpferde, die am Uferrand standen und mit leeren Augen aufs Wasser blickten. Mehrere Jungen ließen Boote auf den Wellen segeln. Überall blühten Blumen, Tulpen, Lilien und Petunien, strahlend im Sonnenlicht. Menschen schlenderten über die mit Kies bestreuten Pfade, saßen auf Bänken und tranken Tee.
    Mariam konnte kaum glauben, hier zu sein. Ihr Herz pochte vor Erregung. Sie wünschte, Mullah Faizullah könnte sie jetzt sehen. Wie wagemutig er sie finden würde! Wie verwegen! Sie erträumte sich ein neues Leben in dieser Stadt, ein Leben mit einem Vater, mit Schwestern und Brüdern, ein Leben, in dem sie Liebe zeigen und Liebe erfahren würde, ohne Vorbehalt oder Verstellung, ohne Scham.
    Freudig kehrte sie auf die breite Straße vor dem Park zurück. Sie kam an alten Straßenhändlern mit ledrigen Gesichtern vorbei, die im Schatten der Platanen hinter Pyramiden von Kirschen und Bergen von Weintrauben hockten und zu ihr aufblickten. Barfüßige Jungen rannten Autos und Bussen hinterher und winkten mit Tüten voller Quitten. Mariam stand am Straßenrand. Sie beobachtete die vorbeiziehenden Leute und konnte nicht verstehen, dass sie die Wunder ringsum kaum zu beachten schienen.
    Schließlich fasste sie sich ein Herz und fragte den alten Betreiber eines Pferde- gari , ob er wisse, wo Jalil, der Kinobesitzer, wohne. Der Alte hatte ein pausbackiges Gesicht und trug einen gestreiften chapan in den Farben des Regenbogens. »Du bist nicht aus Herat, stimmt’s?«, sagte er leutselig. »Hier weiß nämlich jeder, wo Jalil Khan wohnt.«
    »Würden Sie’s mir zeigen?«
    Er wickelte einen Karamellbonbon aus dem Papier und fragte: »Bist du allein?«
    »Ja.«
    »Steig auf. Ich bring dich hin.«
    »Ich kann aber nicht bezahlen. Ich habe kein Geld.«
    Er gab ihr den Bonbon und sagte, dass er schon seit zwei Stunden keinen Fahrgast mehr befördert und ohnehin die Absicht habe, nach Hause zurückzukehren. Jalils Haus liege auf dem Weg.
    Mariam kletterte auf den gari . Schweigend fuhren sie durch die Straßen. Mariam sah Kräuterläden
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