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Tanz auf Glas

Tanz auf Glas

Titel: Tanz auf Glas
Autoren: Ka Hancock
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Jahr stabil, praktisch seit dem Zeitpunkt, nachdem ich zuletzt an meiner Medikation »herumgespielt« hatte, wie Lucy gesagt hätte. Außerdem traf ich Gleason zweimal die Woche, einmal zur Therapiesitzung, einmal zum Essen (mittags oder abends), manchmal auch auf einen Hamburger bei einem Basketballspiel. Er war jetzt in Altersteilzeit, doch er hatte mir mehr als einmal gesagt, dass er sich von seinem Beruf als Psychiater verabschiedete, aber nicht von mir. Ich hatte ihm versprochen, nicht zu einem
Was-ist-mit-Bob?
-Patienten zu werden, und das hatte ich auch geschafft. Doch selbst mit Gleasons steter Unterstützung hatte ich eine Weile gebraucht, um so weit zu kommen.
    Es heißt, das erste Jahr nach einem schweren Verlust sei das schwerste. Das ist stark untertrieben – Trauer ist eine eigene Form von Geisteskrankheit, und es gibt keine Behandlung dagegen. Es gibt keine Abkürzungen, der einzige Weg aus der Trauer heraus führt mitten hindurch. Man muss einfach jeden Tag aufstehen und abwarten, bis man wieder ins Bett gehen kann, um dann aufzuwachen und von vorn anzufangen. Bis man eines Tages landet. Gleason behielt recht, irgendwann erschien wieder fester Boden unter meinen Füßen. Nach meinem langen Sturz durch die Trauer landete ich endlich darauf. Das war ein hartes Jahr. Aber ich schaffte es, mich von der Klinik fernzuhalten, bis auf vier Tage im November, als Abby ein Jahr alt wurde und Lucy genauso lange tot war. Aber Abby hat mich gerettet. Ihr Vater zu sein, das hat mich gerettet. Genau, wie Lucy es vorhergesehen hat.
    Ich wandte mich dem Friedhof zu, dessen Name River’s Peace mir an einem Tag wie diesem – mit einer sanften Brise, wohliger Stille und dem weiten blauen Himmel – sehr passend erschien. Nach jenem Heiligabend, als Lily mich hierhergebracht hatte, war ich fast zwei Jahre lang nicht mehr hergekommen. Bis zu Muriel Pipers Beerdigung. Nach ihrer Trauerfeier brauchte ich all meine Kraft und Rons Versprechen, im Wagen auf mich zu warten, aber ich schaffte es, allein zu Lucys Grab zu gehen. Und es war, als hätte sie auf mich gewartet. Ich hatte damit gerechnet, von meinem Schmerz überwältigt zu werden, doch stattdessen fand ich stillen Trost, eine Wärme, die sich beinahe anfühlte wie ihre Hand in meiner. Natürlich nicht ganz, aber es fühlte sich so an, als sei sie ganz nahe, und das war schön.
    Jetzt fällt es mir immer leichter, sie zu besuchen, und ich komme zu besonderen Gelegenheiten hierher, selbst wenn ich mir dazu eine ausdenken muss. Heute zum Beispiel. Auf dem drei Jahre alten Kalender in meiner Küche ist dieser Tag mit rosafarbenen und blauen Kreisen eingekringelt. An jenem Tag hatte ich meine Tochter zum ersten Mal gesehen – der Tag des Ultraschalls. Der Tag, an dem Lucy und ich die Wandfarbe gekauft hatten, die Abby für immer in ihrem Zimmer umgeben wird. Wenn ich hierherkomme, um solcher Tage zu gedenken, sage ich mir immer, dass sich auch Lucy daran erinnert.
    Ich ging den Hügel hinauf, blieb vor dem Grab meiner Frau stehen, küsste die Fingerspitzen und drückte sie auf ihren Namen. »Hallo, Schatz«, sagte ich, ohne zu weinen.
    An den weißen Rosen erkannte ich, dass Priscilla diese Woche hier gewesen war. Sie legte immer weiße Rosen auf das Grab. Lily hinterließ meistens Tausendschön oder Lilien. Abby legte alles Mögliche auf das Grab ihrer Mutter – ein Stoffäffchen, einen Schlüssel, ein völlig unverständliches Bild, von dem sie schwor, dass es eine Mommy und einen Daddy und eine Abby zeigte.
    Ich hinterlasse Glasscherben.
    Ich legte meine neueste Gabe auf Lucys Grabstein zu den anderen Scherben, die sich dort angesammelt haben. Rosa, Topasgelb, milchiges Türkis, und heute war es eine dunkelrote Scherbe, die vermutlich von einem alten Fischerboot stammte. Auf Scherben tanzen. Das war ein Symbol für unsere Ehe, für mich aber noch viel mehr ein Gleichnis unserer Liebe. Lucy hat oft zu mir gesagt, sie liebe mich so sehr, dass sie mit mir auch für immer auf Glasscherben tanzen würde.
    Ich verließ mich darauf.
    Ich war in Gedanken versunken und merkte nicht, dass Lily auf dem Parkplatz hielt. Ich bemerkte sie erst, als sie die Fondtür öffnete und ihren kleinen Passagier hinausließ. Abbys Kichern riss mich aus meinen Tagträumen. Meine Tochter ist eine zweieinhalb Jahre alte Miniaturausgabe ihrer Mutter, bis auf die Augen, die sind von mir. Sie hat einen Schopf dunkler Locken, durch den ich nur mit Mühe einen Kamm gezogen bekomme, und sie
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