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talon004

talon004

Titel: talon004
Autoren: Die Ruinenfelder
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besangen.
    Die Rufe erreichten die Ohren des Hünen nicht, der in unruhigem Schlaf zwischen dem Bauschutt eines halbfertigen Hauses im Schatten einer Mauer lag. Der kahlköpfige Schwarze stöhnte unentwegt leise auf. Sein löchriges Unterhemd war von Schweiß und Staub längst speckig geworden und legte sich wie eine schmierige Schicht auf den breiten, muskulösen Oberkörper.
    Der Atem des Mannes ging hastig. Fiebrig glänzender Schweiß stand auf seiner Stirn, deren eine Seite von schmalen, bunten Perlenschnüren verziert war, die an dem letzten kleinen Haarschopf befestigt worden waren. Entlang der Stirn zeichneten Einbuchtungen tiefe Schatten in die Haut.
    „Shion!“, rief er plötzlich aus und erwachte. Ohne eine Spur von Müdigkeit oder Schwäche blitzten seine wachen Augen in der Dunkelheit auf.
    Von der anderen Seite des Gebäudes war ein leises Fluchen zu hören. Ein von Pockennarben gezeichneter Araber sprang von seinem Schlafplatz auf und kam wankend auf die Beine.
    „Eh, halt’s Maul, du schwarze Laus!“, rief er wütend und drohte dem Hünen mit der Faust. „Leg’ dich schlafen, du Penner. Ich bin müde!“
    Beruhigend legte ihm ein Freund den Arm auf die Schulter und wollte ihn zurück in den Schatten ziehen.
    „Mahmud, lass’ doch …“ setzte er an, doch sein Freund war nicht bereit, sich so einfach zu beruhigen. Er trat mit dem Fuß gegen eine leere Farbbüchse und hörte nicht auf zu schimpfen.
    Ungerührt erhob sich der Schwarze und betrachtete sich die beiden Männer.
    Sein rechter Arm stieß vor und schwang durch die Luft. Um die Fingerspitzen sammelten sich kleine Lichtpunkte, die seine prankenförmige Hand in weiten Schwüngen umtanzten. Die Lichter wurden wilder in ihren Bewegungen und nahmen eine bedrohliche Farbe an. Ein tiefroter Schein, der langsam pulsierte, umgab die Gliedmaßen.
    Von einem Augenblick auf den anderen schoss das Licht vor und explodierte zwischen den beiden Arabern, die fassungslos dem Schauspiel zugesehen hatten. Ihre Todesschreie verklangen im letzten verwehenden Ruf der Muezzine weit in der Ferne. Zurück blieb nicht mehr als rauchende Asche, die sich an der kahlen Betonwand festbrannte.
    Voller Befriedigung betrachtete der Hüne den Lichtschein, der nun langsam in seiner geschlossenen Faust verlosch. Schweiß perlte in Bächen von seiner Stirn.
    „Er ist zurück!“, stieß er kehlig hervor. „Er wagt es!“

    Stunden und Tage folgte Talon der lautlosen Stimme in seinem Kopf.
    Sie war fordernd, unnachgiebig und zog ihn weiter mit sich. Die weite Savanne war einem kargen, unwirklichen Ruinenfeld gewichen, das sich über Dutzende von Kilometern zu erstrecken schien. Skelettartig ragten in regelmäßigen Abständen Streben in einem scharfen Winkel mehr als zehn Meter hoch in die Luft und trotzten allen Gesetzen der Statik. Zahlreiche Risse durchzogen wie ein feines Gespinst den marmorartigen Stein, der in allen Nuancen zwischen tiefbraun und ockergelb lebendig schimmerte.
    Zwischen den Streben erhoben sich kurze, lange zerfallene Überreste breiter Säulen, bedeckt von einer feinen Staubschicht, die in dünnen Schleiern durch den leicht wehenden Wind davon getragen wurde.
    Teilnahmslos bekam er mit, wie sich Rudel um Rudel von Löwen in den Pfad einreihte und mit ihm den Weg teilte. In einem endlosen Strom folgten sie einer befehlenden Stimme durch die lange zerfallenen Ruinen.
    Etwas in Talon regte sich. Schwach nur, wie ein vergessener Gedanke. Doch dann nahm es an Intensität zu, durchbrach die Mauer der fern rufenden Stimme. Widerstand erwachte in ihm, der mit jedem Augenblick stärker wurde.
    Er erinnerte sich an früher, als andere Stimmen ihn trieben.
    Stimmen, zu denen Gesichter vor seinem inneren Auge tanzten. Ihnen hatte er widerstanden. Auch sie hatte er gebrochen. Längst war er stehen geblieben und ließ die teilnahmslos dahin schreitenden Löwen an sich vorbei ziehen.
    Er wusste, dass er kämpfen musste, wollte er sich nicht wieder verlieren.
    Der Atem brannte heiß in seiner Brust. Lichtreflexe umschwirrten ihn mit schmerzhafter Helligkeit. Die Schleier seiner Gedanken brodelten in einem Feuer qualvoller Glut.
    Heiß.
    Wie Magma drangen sie in seine Seele ein und erfüllten jede Faser seiner Selbst.
    Schwarz.
    Talons Sinne schwanden in einem Strudel, der sich tief in der Unendlichkeit verlor.
    Leer.

    Fortsetzung folgt in

    Talon Nummer 5

    „Unsichtbare Augen“

    © Copyright aller Beiträge 2004 by Thomas Knip. Nachdruck, auch auszugsweise,
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