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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923
Autoren: Franz Kafka
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Bewegung, die mir hier völlig fehlt, auf einer andern Ebene in glücklichen Zeiten habe.
    Wenn M. z. B. hierher plötzlich käme, es wäre schrecklich.
    Zwar äußerlich wäre meine Stellung vergleichsweise sofort glänzend. Ich wäre geehrt als ein Mensch unter Menschen, ich bekäme mehr als nur förmliche Worte, ich säße (freilich weniger aufrecht als jetzt, da ich allein sitze, und auch jetzt sitze ich zusammengefallen) am Tisch der Schauspielergesellschaft, ich wäre Dr. H. social äußerlich fast ebenbürtig – aber ich wäre abgestürzt in eine Welt, in der ich nicht leben kann. Bleibt nur das Rätsel zu lösen, warum ich in Marienbad 14 Tage glücklich war und warum ich es infolgedessen, allerdings nach der schmerzensvollen Grenzdurchbrechung, vielleicht auch hier mit M. werden könnte. Aber wohl viel schwerer als in Marienbad, die Ideologie ist fester, die Erfahrungen größer. Was früher ein trennendes Band war, ist jetzt eine Mauer oder ein Gebirge oder richtiger: ein Grab.
    30 (Januar 1922) Warten auf die Lungenentzündung. Furcht nicht so sehr vor der Krankheit als wegen der Mutter und vor ihr, vor dem Vater, dem Direktor und weiterhin allen. Hier scheint es deutlich zu sein, daß die 2 Welten bestehn und daß ich der Krankheit gegenüber so unwissend, so beziehungslos, so ängstlich bin wie etwa gegenüber dem O. Sonst aber scheint mir die Teilung allzu bestimmt, in ihrer Bestimmtheit gefährlich, traurig und zu herrisch zu sein. Wohne ich denn in der andern Welt? Wage ich das zu sagen?
    Wenn jemand sagt: "Was liegt mir denn am Leben? Nur wegen meiner Familie will ich nicht sterben. " Aber die Familie ist ja eben die Repräsentantin des Lebens, also will er doch wegen des Lebens am Leben bleiben. Nun das scheint was die Mutter betrifft, für mich auch zu gelten, aber erst in letzter Zeit.
    Ob es aber nicht die Dankbarkeit und Rührung ist, die mich
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    dazu bringt, Dankbarkeit und Rührung, weil ich sehe, wie sie mit für ihr Alter unendlicher Kraft sich bemüht meine Beziehungslosigkeit zum Leben auszugleichen. Aber
    Dankbarkeit ist auch Leben.
    31 (Januar 1922) Das würde heißen, daß ich wegen der Mutter am Leben bin. Das kann nicht richtig sein, denn selbst wenn ich unendlich viel mehr wäre als ich bin, wäre ich nur ein Abgesandter des Lebens und wenn durch nichts anderes, durch diesen Auftrag mit ihm verbunden.
    Das Negative allein kann, wenn es noch so stark ist, nicht genügen, wie ich in meinen unglücklichsten Zeiten glaube.
    Denn wenn ich nur die kleinste Stufe erstiegen habe, in irgendeiner sei es auch der fragwürdigsten Sicherheit bin, strecke ich mich aus und warte bis das Negative – nicht etwa mir nachsteigt – sondern die kleine Stufe mich hinabreißt.
    Darum ist es ein Abwehrinstinkt, der die Herstellung des kleinsten dauernden Behagens für mich nicht duldet und z. B.
    das Ehebett zerschlägt, ehe es noch aufgestellt ist 1 II (1922) Nichts, nur müde. Glück des Fuhrmanns z. B., der jeden Abend so wie ich heute meinen, und noch viel schöner erlebt. Abend etwa auf dem Ofen. Der Mensch reiner als am Morgen, die Zeit vor dem müden Einschlafen ist die eigentliche Zeit der Reinheit von Gespenstern, alle sind vertrieben, erst mit der fortschreitenden Nacht kommen sie wieder heran, am Morgen sind sie sämtlich wenn auch noch unkenntlich da, und nun beginnt wieder beim gesunden Menschen ihre tägliche Vertreibung.
    Mit primitivem Blick gesehn ist die eigentliche,
    unwidersprechliche, durch nichts außerhalb (Märtyrertum, Opferung für einen Menschen) gestörte Wahrheit nur der körperliche Schmerz. Merkwürdig daß nicht der Gott des Schmerzes der Hauptgott der ersten Religionen war (sondern vielleicht erst der späteren) Jedem Kranken sein Hausgott, dem Lungenkranken der Gott des Erstickens. Wie kann man sein
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    Herankommen ertragen, wenn man nicht an ihm Anteil hat noch vor der schrecklichen Vereinigung.
    2 (Februar 1922) Kampf auf dem Weg zum Tannenstein am Vormittag, Kampf beim Zuschauen des Ski-Wettspringens. Der kleine fröhliche B. in aller seiner Unschuld irgendwie von meinen Gespenstern beschattet, wenigstens für meine Augen, besonders das eine vorgestellte Bein in dem grauen eingedrehten Strumpf, der zwecklos umherstreifende Blick, die zwecklosen Worte. Es fällt mir dabei ein – aber das ist schon künstlich – daß er mich gegen Abend nachhause begleiten wollte.
    Der "Kampf" würde beim Erlernen eines Handwerks wahrscheinlich entsetzlich sein.
    Die durch
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