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Tagebücher 1909-1923

Tagebücher 1909-1923

Titel: Tagebücher 1909-1923
Autoren: Franz Kafka
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dem Zustand, in dem sich ein gesunder Mensch ein Weilchen la ng vor dem eigentlichen Einschlafen befindet.
    Wenn ich erwache sind alle Träume um mich versammelt aber ich hüte mich, sie zu durchdenken. Gegen Früh seufze ich in den Polster, weil für diese Nacht alle Hoffnung vorüber ist. Ich denke an jene Nächte, an deren Ende ich aus dem tiefen Schlaf gehoben wurde und erwachte, als wäre ich in einer Nuß eingesperrt gewesen. Eine schreckliche Erscheinung war heute in der Nacht ein blindes Kind scheinbar die Tochter meiner Leitmeritzer Tante die übrigens keine Tochter hat sondern nur Söhne, von denen einer einmal den Fuß gebrochen hatte.
    Dagegen waren zwischen diesem Kind und der Tochter Dr.
    Marschners Beziehungen, die, wie ich letzthin gesehen habe, auf dem Wege ist, aus einem hübschen Kind ein dickes steif angezogenes kleines Mädchen zu werden. Dieses blinde oder
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    schwachsichtige Kind hatte beide Augen von einer Brille bedeckt, das linke unter dem ziemlich weit entfernten Augenglas war milchgrau und rund vortretend, das andere trat zurück und war von einem anliegenden Augenglas verdeckt. Damit dieses Augenglas optisch richtig eingesetzt sei, war es nötig statt des gewöhnlichen über das Ohr zurückgehenden Halters, einen Hebel anzuwenden, dessen Kopf nicht anders befestigt werden konnte als am Wangenknochen, so daß von diesem Augenglas ein Stäbchen zur Wange hinuntergieng, dort im durchlöcherten Fleisch verschwand und am Knochen endete, während ein neues Dratstäbchen heraustrat und über das Ohr zurückgieng. – Ich glaube, diese Schlaflosigkeit kommt nur daher, daß ich schreibe.
    Denn so wenig und so schlecht ich schreibe, ich werde doch durch diese kleinen Erschütterungen empfindlich, spüre besonders gegen Abend und noch mehr am Morgen, das Wehen, die nahe Möglichkeit großer mich aufreißender Zustände, die mich zu allem fähig machen könnten und bekomme dann in dem allgemeinen Lärm der in mir ist und dem zu befehlen ich nicht Zeit habe, keine Ruhe. Schließlich ist dieser Lärm nur eine bedrückte, zurückgehaltene Harmonie, die freigelassen mich ganz erfüllen, ja sogar noch in die Weite spannen und dann noch erfüllen würde. Jetzt aber verursacht mir dieser Zustand neben schwachen Hoffnungen nur Schaden, da mein Wesen nicht genug Fassungskraft hat, die gegenwärtige Mischung zu ertragen, bei Tag hilft mir die sichtbare Welt, in der Nacht zerschneidet es mich ungehindert. Immer denke ich dabei an Paris, in dem zur Zeit der Belagerung und später bis zur Commune die dem Pariser bis dahin fremde Bevölkerung der nördlichen und östlichen Vorstädte in der Zeit von Monaten förmlich von Stunde zu Stunde durch die verbindenden Gassen stockend wie Uhrzeiger in das Innere von Paris rückte.
    Mein Trost ist – und mit ihm lege ich mich jetzt nieder – daß ich solange nicht geschrieben habe, daß sich daher dieses Schreiben in meine gegenwärtigen Verhältnisse noch nicht
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    einordnen konnte, daß dies jedoch bei einiger Männlichkeit wenigstens provisorisch gelingen muß.
    Ich war heute so schwach daß ich sogar meinem Chef die Geschichte von dem Kind erzählte. – Jetzt erinnerte ich mich, daß die Brille im Traum von meiner Mutter stammt, die am Abend neben mir sitzt und unter ihrem Zwicker während des Kartenspiels nicht sehr angenehm zu mir herüberschaut. Ihr Zwicker hat sogar, was ich früher bemerkt zu haben mich nicht erinnere das rechte Glas näher dem Auge als das linke.
    3 Oktober (1911) Die gleiche Nacht, nur noch schwerer eingeschlafen. Beim Einschlafen ein vertikal gehender Schmerz im Kopf über der Nasenwurzel, wie von einer zu scharf gepreßten Stirnfalte. Um möglichst schwer zu sein, was ich für das Einschlafen für gut halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hände auf die Schultern gelegt, so daß ich dalag wie ein bepackter Soldat. Wieder war es die Kraft meiner Träume die schon ins Wachsein vor dem Einschlafen strahlen, die mich nicht schlafen ließ. Das Bewußtsein meiner dichterischen Fähigkeiten ist am Abend und am Morgen unüberblickbar. Ich fühle mich gelockert bis auf den Boden meines Wesens und kann aus mir heben was ich nur will. Dieses Hervorlocken solcher Kräfte, die man dann nicht arbeiten läßt, erinnern mich an mein Verhältnis zur B. Auch hier sind Ergießungen, die nicht entlassen werden, sondern im Rückstoß sich selbst vernichten müssen, nur daß es sich hier – das ist der Unterschied – um geheimnisvollere Kräfte und
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