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Süße Worte, heißes Flüstern

Süße Worte, heißes Flüstern

Titel: Süße Worte, heißes Flüstern
Autoren: Barbara McCauley
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hindurch hatten sie Abschied voneinander genommen. Sie hatten sich geliebt, über die Mädchen gesprochen, über das Obstkuchen-Fest, über sein Motorrad – nur nicht darüber, dass sie sich in ein paar Stunden trennen mussten. Beide hatten sie es so gewollt.
    Sie hatten es doch so gewollt, oder?
    Im Vorzimmer des Büros klingelte ein Telefon, was Seth in die Gegenwart zurückbrachte. Erneut betrachtete er die Modelleisenbahn. An der Seite entdeckte er den Schalter, mit dem man sie vermutlich in Betrieb setzen konnte, und es juckte ihn in den Fingern, es auszuprobieren. Er fragte sich, ob wohl auch diese Lokomotive kleine Rauchwolken aus dem Schornstein ausstieß wie die Spielzeuglok, die sein Vater ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, als er sechs gewesen war. Er konnte sich an das Weihnachtsfest noch gut erinnern. Sein Bruder Rand und er hatten Stunden mit der Modelleisenbahn gespielt, die ihr Vater unter dem Weihnachtsbaum aufgebaut hatte, und sie hatten sich darum gestritten, wer wann Lokführer sein durfte.
    Und jetzt sollte es gleich so weit sein, dass sie, Rand und er, sich nach dreiundzwanzig Jahren wieder gegenüberstanden. Seth vergrub die Hände in den Hosentaschen. Er tat es nicht nur, um der Versuchung zu widerstehen, die Modelleisenbahn in Betrieb zu setzen, sondern auch, weil er merkte, dass ihm bei dem Gedanken an die bevorstehende Begegnung die Hände feucht wurden.
    “Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen.” Henry Barnes war ins Büro gekommen. Er lächelte Seth gewinnend zu. “Eine alte Freundin hat sich nur mit Mühe davon überzeugen lassen, dass es keine Sache für den Obersten Gerichtshof ist, wenn Nachbars Hund ihre preisgekrönten Dahlien ausbuddelt.”
    Der grauhaarige Notar trug ein anthrazitgraues Sportjackett und auf Hochglanz polierte Cowboystiefel. “Hübsch, nicht?”, meinte er mit Blick auf die Modelleisenbahn. Die lebendigen, dunkelbraunen Augen des älteren Herrn strahlten. “Hab sie letzte Woche erst aufgebaut. Meine Enkelkinder sind total hingerissen. Henry Barnes”, stellte er sich nun vor und reichte Seth die Hand. Der Händedruck war fest und freundlich und nahm Seth ein wenig von seiner Befangenheit. “Sagen Sie einfach Henry zu mir.”
    Henry ging hinter seinen gewaltigen Schreibtisch und bedeutete Seth, im Ledersessel davor Platz zu nehmen. Während der Notar sich zurücklehnte, betrachtete er Seth eingehend. “Sie sehen Ihrem Bruder wirklich verdammt ähnlich, das muss ich schon sagen”, bemerkte er kopfschüttelnd. “Das ist sowieso eine verdammt merkwürdige Sache, dieser Fall.”
    Seth konnte es vor Ungeduld kaum noch aushalten. “Ich hatte erwartet, meinen Bruder hier zu treffen.”
    “Ich hielt es für besser, zunächst einige Dinge mit Ihnen allein zu besprechen.” Henry richtete sich auf und schlug die Akte auf, die er mitgebracht hatte. “Dann hätten wir die grundsätzlichen Fakten schon einmal geklärt.”
    Seth zuckte die Achseln. Er war enttäuscht. Aber was sollte er tun?
    “Alles Wesentliche steht hier drin”, sagte Henry und schob ihm die Akte über den Schreibtisch zu. “Daten, Fakten, Namen – hier können Sie alles nachlesen. Sie können den Ordner mitnehmen und erst studieren. Ich kann Ihnen aber auch, wenn Sie es wünschen, jetzt schon mal eine Kurzfassung geben.”
    Seth warf einen Blick in den Ordner. Es waren ein bis zwei Dutzend eng beschriebene Seiten. “Dann entscheide ich mich für die Kurzfassung.”
    “Dachte ich mir.” Lächelnd drückte Henry eine Taste der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch und sagte: “Judy, könnten wir wohl bitte zwei Tassen Kaffee bekommen. Und in der nächsten Zeit keine Anrufe in mein Büro.”
    Henry lehnte sich wieder zurück. “Machen Sie es sich doch bitte bequem, Seth. Auch die Kurzfassung wird etwas Zeit in Anspruch nehmen.”

12. KAPITEL
    Zwei Stunden später stand Seth in seinem Zimmer im fünften Stock des
Four Winds Hotels
und starrte aus dem Fenster auf die Stadt. Vieles von früher war noch da: der Drugstore gegenüber, in dem seine Mutter ihm manchmal Bonbons gekauft hatte, der Friseur ein paar Häuser weiter, das kleine Restaurant an der Ecke, in dem die Familie bei Hamburgern und Milchshakes zusammengesessen hatte.
    Als er vorhin das erste Mal wieder durch die Stadt gefahren war, waren viele Erinnerungen aus seiner Kindheit in ihm wach geworden. Es waren weniger Namen und Gesichter, an die er sich erinnern konnte, sondern vor allem Gerüche und Geräusche.
    Aber
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