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Stufen: Ausgewählte Gedichte

Stufen: Ausgewählte Gedichte

Titel: Stufen: Ausgewählte Gedichte
Autoren: Hermann Hesse
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erscheinen,
Was heut wir in der Hand zu halten meinen,
Und jede Blume wunderbar verirrt.
    Bang wächst ein Wunsch in der erschreckten Seele:
Daß sie nicht allzu sehr am Dasein klebe,
Daß sie das Welken wie ein Baum erlebe,
Daß Fest und Farbe ihrem Herbst nicht fehle.

S OMMERABEND VOR EINEM T ESSINER
W ALDKELLER
    An den Platanenstämmen spielt noch Licht.
Durchs hohe Astgewölbe blickt noch Blau
Und spiegelt sich im Wein. Im Walde spricht
Mit Kindern eine unsichtbare Frau.
Aus einem Dorf im Tale lärmt Musik
Sonntäglich her und klingt nach Schweiß;
Dort draußen unterm schrägen Sonnenblick
Dampft sommerliche Welt noch schwer und heiß.
    Hier aber atmet Waldlaub und Gestein,
Weht Unschuld klösterlich und Feierabend,
Den Bissen Brot, die kühle Schale Wein
Mit holder Zaubertraumkraft fromm begabend.
Farnkraut am Wege duftet scharf und strenge,
Schon wird im Holz der Siebenschläfer wach,
Die erste Fledermaus jagt durchs Gestänge
Gekreuzter Äste ihrem Raube nach.
Und nun stirbt Laut um Laut und Licht um Licht
Der Tag dahin, und aus den Bäumen quillt,
Wie Harz und Honig duftend, schwer und dicht
Herab die Nacht, die mütterlich uns stillt.
    Es löschen mit dem Tag die Namen aus,
Mit denen wir geordnet unsere Welt:
Platane, Ahorn, Esche, Felsen, Haus
Schmelzen in Eines, hingegeben fällt
Die bunte Vielfalt an der Mutter Brust
Zurück und in der Kindheit dumpfe Lust.
Kraut duftet bang und Pilz, ein Waldkauz schreit,
Das Laubgewirr der Bäume taumelt sacht ...
    Wie selig duftet doch Vergänglichkeit!
Wie sehnt sich Geist nach Blut, und Tag nach Nacht!

G EDENKEN
AN DEN S OMMER K LINGSORS
    Zehn Jahre schon, seit Klingsors Sommer glühte
Und ich mit ihm die warmen Nächte lang
Bei Wein und Frauen so verloren blühte
Und seine trunknen Klingsor-Lieder sang!
    Wie anders schau’n und nüchtern jetzt die Nächte,
Wie so viel stiller geht mein Tag einher!
Wenn auch ein Zauberwort mir wiederbrächte
Den Rausch von einst – ich wollte ihn nicht mehr.
    Das eilige Rad nicht mehr zurückzurollen,
Still zu bejah’n den leisen Tod im Blut,
Nicht mehr das Unausdenkliche zu wollen,
Ist meine Weisheit jetzt, mein Seelengut.
    Ein andres Glück, ein neuer Zauber faßten
Seither mich manchmal: nichts als Spiegel sein,
Darin für Stunden, so wie Mond im Rhein,
Der Sterne, Götter, Engel Bilder rasten.

D ER D ICHTER UND SEINE Z EIT
    Den ewigen Bildern treu, standhaft im Schauen
Stehst du zu Tat und Opferdienst bereit.
Doch fehlt in einer ehrfurchtlosen Zeit
Dir Amt und Kanzel, Würde und Vertrauen.
    Dir muß genügen, auf verlorenem Posten,
Der Welt zum Spott, nur deines Rufs bewußt,
Auf Glanz verzichtend und auf Tageslust,
Zu hüten jene Schätze, die nicht rosten.
    Der Spott der Märkte mag dich kaum gefährden,
Solang dir nur die heilige Stimme tönt;
Wenn sie in Zweifeln stirbt, stehst du verhöhnt
Vom eigenen Herzen als ein Narr auf Erden.
    Doch ist es besser, künftiger Vollendung
Leidvoll zu dienen, Opfer ohne Tat,
Als groß und König werden durch Verrat
Am Sinne deines Leids: an deiner Sendung.

D AS L IED VON A BELS T OD
    Tot in den Gräsern liegt Abel,
Bruder Kain ist entflohn.
Ein Vogel kommt, taucht den Schnabel
Ins Blut, schrickt auf, fliegt davon.
    Der Vogel flieht durch die ganze Welt,
Sein Flug ist scheu, seine Stimme gellt,
Er klagt unendliche Klage:
Um den schönen Abel und seinen Todesschmerz,
Um den finsteren Kain und seine Seelennot,
Um seine eigenen jungen Tage.
Bald schießt ihm Kain seinen Pfeil ins Herz,
Bald wird er Streit und Krieg und Tod
In alle Hütten und Städte tragen,
Wird sich Feinde schaffen und sie erschlagen,
Wird sie und sich selber verzweifelt hassen,
Wird sie und sich selber in allen Gassen
Verfolgen und quälen bis zur nächsten Welten-Nacht,
Bis Kain endlich sich selber umgebracht.
    Der Vogel flieht, aus seinem blutigen Schnabel
Schreit Todesklage über die ganze Welt.
Es hört ihn Kain, es hört ihn der tote Abel,
Es hören ihn Tausend unterm Himmelszelt.
Zehntausend aber und mehr, die hören ihn nicht,
Sie wollen nichts wissen von Abels Tod,
Nichts von Kain und seiner Herzensnot,
Nichts vom Blut, das aus so vielen Wunden bricht,
Nichts vom Krieg, der noch gestern gewesen
Und von dem sie jetzt in Romanen lesen.
Für sie alle, die Satten und Frohen,
Die Starken und die Rohen
Gibt es nicht Kain noch Abel, nicht Tod noch Leid,
Und den Krieg preisen sie als große Zeit.
Und wenn der klagende Vogel vorüberfliegt,
Dann nennen sie ihn Schwarzseher und Pessimist,
Fühlen sich stark und
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