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Sternwanderer

Titel: Sternwanderer
Autoren: Neil Gaiman
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Feuerschein beinahe schwarz wirkte. »Das war mein Lohn«, erklärte sie, »für über sechzig Jahre Sklavendienst. Es hat sie mächtig gefuchst, mir das zu geben, aber Regeln sind nun mal Regeln, und sie hätte ihre Zauberkraft verloren und noch einiges mehr, wenn sie sich nicht dazu bereit gefunden hätte. Nun, ich gedenke die Blume gegen eine Sänfte einzutauschen, die uns nach Stormhold zurückbringt, denn wir müssen in einem angemessenen Rahmen dort eintreffen. Oh, wie sehr habe ich Stormhold vermißt! Wir brauchen Träger und Vorreiter und vielleicht einen Elefanten – die machen wirklich Eindruck, nichts sorgt wirkungsvoller für freie Fahrt und Respekt als ein Elefant…«
    »Nein«, unterbrach Tristran ihren Redeschwall.
    »Nein?« wiederholte seine Mutter verwundert.
    »Nein«, bestätigte Tristran. »Du kannst meinetwegen in einer Sänfte reisen, mit Elefanten, Kamelen und allem, was du sonst noch möchtest, Mutter. Aber Yvaine und ich gehen unseren eigenen Weg und zwar in unserem eigenen Tempo.«
    Lady Una holte tief Luft, und Yvaine dachte, dieser Streit würde sich zu etwas auswachsen, bei dem sie lieber nicht anwesend sein wollte. Deshalb stand sie auf und entschuldigte sich, sie wolle ein Stück Spazierengehen, werde sich jedoch nicht zu weit entfernen und bald zurück sein. Tristran blickte sie flehend an, aber Yvaine schüttelte den Kopf: Dies war sein Kampf, er mußte ihn gewinnen, und er würde besser kämpfen können, wenn sie nicht dabei war.
    So hinkte sie durch den dämmrig werdenden Markt. An einem Zelt, aus dem man Musik und Applaus hörte und ein warmes Licht wie Honig in die Dunkelheit strömte, machte sie halt. Sie lauschte der Musik und hing ihren Gedanken nach. Nach einer Weile kam eine gebeugte, weißhaarige alte Frau auf sie zu und bat sie, sich eine Weile zu ihr setzen und sich mit ihr unterhalten zu dürfen.
    »Worüber denn?« fragte die Sternfrau.
    Die alte Frau, die vom Alter geschrumpft und kaum größer war als ein Kind, hielt mit rheumatischen Fingern einen Stock umklammert, so kurz und krumm wie sie selbst. Mit einem normalen und einem milchigen Auge starrte sie zu der Sternfrau empor und antwortete: »Ich bin gekommen, um dein Herz zu holen.«
    »Ach wirklich?« entgegnete der Stern.
    »Jawohl«, bekräftigte die alte Frau. »Ich hatte es schon beinahe, dort oben in den Bergen.« Sie kicherte tief in der Kehle bei dieser Erinnerung. »Weißt du nicht mehr?« Auf dem Rücken trug sie wie einen Buckel einen großen Rucksack. Aus dem Sack ragte ein spiralförmiges Elfenbeinhorn, und Yvaine wußte sofort, wo sie dieses Horn schon einmal gesehen hatte.
    »Ach, Ihr wart das?« fragte der Stern die verschrumpelte Alte. »Ihr wart die Frau mit den Messern?«
    »Hmmm. Das war ich. Aber ich habe meine ganze Jugend verschwendet, die ich mir auf die Reise mitgenommen hatte. Für jede Zauberei mußte ich ein wenig davon bezahlen, und jetzt bin ich älter, als ich es jemals war.«
    »Wenn Ihr mich anfaßt«, sagte der Stern, »wenn Ihr auch nur einen Finger an mich legt, werdet Ihr es ewig bereuen.«
    »Falls du je so alt wirst wie ich«, erwiderte die alte Frau, »wirst du alles wissen, was es über Reue zu wissen gibt, und du wirst auch wissen, daß ein bißchen mehr oder weniger auf lange Sicht keinen Unterschied macht.« Sie schnüffelte. Früher einmal war ihr Kleid leuchtend rot gewesen, aber im Lauf der Jahre war es oft geflickt und ausgebessert worden und die Farbe verblichen. An einer Seite hing es über die Schulter herunter und gab den Blick auf eine dicke häßliche Narbe frei. »Aber eins möchte ich von dir wissen: Warum kann ich dich in meinen Gedanken nicht mehr finden? Du bist zwar noch da, aber nur wie ein Geist, ein Windhauch, mehr nicht. Vor kurzem hast du – oder vielmehr dein Herz – in meinem Geist geglüht wie ein silbernes Feuer. Doch nach der Nacht im Wirtshaus ist das Bild fleckig und unscharf geworden, und jetzt sehe ich es gar nicht mehr.«
    Yvaine merkte, daß sie nichts weiter als Mitleid empfand für diese Kreatur, die ihren Tod wollte, und deshalb antwortete sie: »Könnte es sein, daß das Herz, das Ihr sucht, mir nicht mehr gehört?«
    Die Alte hustete. Ihr ganzer Körper bebte und krümmte sich zusammen vor Anstrengung.
    Geduldig wartete Yvaine, bis sie fertig war, dann sagte sie: »Ich habe mein Herz jemandem geschenkt.«
    »Dem Jungen? Dem im Wirtshaus? Mit dem Einhorn?«
    »Ja.«
    »Du hättest es mir damals geben sollen, für meine Schwestern
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