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Sternenfaust - 152 - Am Scheideweg (2 of 2)

Sternenfaust - 152 - Am Scheideweg (2 of 2)

Titel: Sternenfaust - 152 - Am Scheideweg (2 of 2)
Autoren: Anonymous
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Wendungen genommen, die unsere kühnsten Fantasien überstiegen und mich Tag für Tag aufs Neue erkennen lassen, wie wenig ich von diesem Ding namens Leben wirklich weiß. Aber es ist eine Zukunft. Eine, in der nicht zählt, wie man ist und wem man gehorcht, sondern was man zur Gemeinschaft beizutragen bereit ist. Eine, in der jeder Einzelne seine Fußspuren hinterlässt. Eine Zukunft wie ein Schmelztiegel.
    Ich muss gestehen, dass ich vor Jahrzehnten, als ich mit meinen Briefen an dich aufhörte, auch aufhörte, das Verstreichen der Zeit zu dokumentieren. Verzeih mir also bitte, dass ich dir nicht sagen kann, wie lange wir bereits hier leben (und merke bitte, dass ich nicht länger »festsitze« schreibe. Diese neue Welt ist mir mehr Heimat geworden, als es Deutschland je gewesen ist). Hier war und ist schlicht zu viel zu tun, als dass mir die Zeit für Reflexion und Sinnsuche geblieben wäre. Oder für einen Brief an einen toten Geliebten.
    Die Gemeinschaft der Verlorenen, die wir sind und waren, ist schnell zusammengewachsen, allen Verständnis- und kulturellen Problemen zum Trotz. Wir erkannten, dass in unseren Unterschieden unser Potenzial liegt. Du würdest lachen, wenn du sähest, wie vielfältig und bunt unsere heutige Zivilisation ist. Wenn ich durch unsere Städte gehe, sehe ich altrömische, fernöstliche, europäische und südamerikanische Einflüsse und Baustile vereint. Aus dem babylonischen Sprachwirrwarr, das noch das größte Problem von uns Exinauten der ersten Stunde war, entsteht allmählich so etwas wie eine einheitliche Mischsprache. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, jede Feinheit ihrer Struktur zu verstehen, aber ich bin alt. Mir liegt wenig am Neuen. Die Kinder der Exinauten werden sie zu meistern wissen, denn sie ist ihr Beitrag zur Gemeinschaft aller.
    Schrieb ich Kinder? Ja, Peter. Wir sind längst nicht mehr die paar Hundert, mit denen wir einst begannen. Wir wurden mehr. Und mehr.
    Wir wurden eins.
     
    *
     
    »Weißt du, woran ich die ganze Zeit denken muss?«
    Taugenichts’ Stimme riss Johannes Lichter aus seiner Konzentration und ließ ihn den Kohlestift auf das Pergament legen. Der Brief konnte warten. Er war ohnehin wenig mehr als ein Zeitvertreib geworden.
    »Ja, weiß ich.« Johannes lächelte. »Aber warum sagst du es mir nicht trotzdem? Der alten Zeiten wegen.«
    Taugenichts’ Lachen war so rau und zittrig wie er selbst, doch von einer Herzlichkeit beseelt, die den meisten der Exinauten zur Natur geworden war. Die beiden Männer saßen auf der Terrasse von Johannes’ Haus am Rand der Siedlung. Da es am Hang eines hinter ihm aufragenden Gebirges errichtet wurde, konnten sie auf das Land und die Häuser vor und unter sich blicken. Die Position war der nicht unähnlich, die sie vor der Höhle gehabt hatten, die die erste Unterkunft ihrer so eigenartigen Zweckgemeinschaft geworden war – nur dass die Fremde, die ihnen damals vor Augen gewesen war, nun einer Heimat Platz gemacht hatte. Ihrer Heimat.
    »Ich denke«, sagte Taugenichts, »dass ich noch einmal so alt werden könnte und trotzdem nie verstünde, warum wir hier gelandet sind. Wer uns hierher brachte. Wo Hier überhaupt ist.«
    »So alt und doch so ratlos«, murmelte Johannes, nickte. »So geht es uns allen. Zumindest der ersten Generation. Denen, die nicht auf dieser Welt geboren wurden.«
    »Auch darüber muss ich oft nachdenken: Warum gerade wir? Was haben beispielsweise ein nicht regimekonformer Student aus Nazideutschland«, dabei deutete er auf Johannes, »und ein untalentierter Möchtegern-Entertainer aus dem Las Vegas der 1980er Jahre miteinander zu tun? Wo ist da der gemeinsame Nenner? Der Grund, der die … die Macht, die hinter unseren Entführungen steckt, dazu brachte, genau bei uns zuzuschlagen?« Taugenichts lachte leise. »Ich schwöre dir, Johannes: So alt ich auch werde, werde ich …«
    »… nie begreifen, was im Kern dieses Rätsels steckt«, beendete Johannes den Satz so selbstverständlich, dass er es kaum noch registrierte.
    Einen Moment lang schwiegen sie. Johannes dachte an Younes. Der Freund von einst war hinter dem Haus begraben, gleich neben Toto. Younes hatte immer zu den Klügsten unter ihnen gezählt, und auch er hatte dieses Mysterium nie aufklären können. Wie auch? Wie verstand man, was sich schon per se der eigenen Vorstellungskraft entzog?
    Sie gehörten hier nicht hin, ihre gesamte Kultur. Und doch waren sie hier, hielten sich seit Jahrzehnten, lebten und gediehen. Eine
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