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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen
Autoren: Franz Werfel
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Selbstüberwindung kostete, über »das Ereignis« zu sprechen. Um ihm die Sache zu erleichtern, schaltete ich immer wieder Fragen ein. Zum Beispiel folgende:
    »Und du warst an diesem ganz gewöhnlichen Tage wieder einmal am Leben, B. H., wie?«
    »So genau kann ich das nicht immer sagen, F. W.«, erwiderte er streng. »Merk dir’s! Manchmal nämlich vermischt sich in meinem Bewußtsein die eigene persönliche Erfahrung mit dem allgemeinen historischen Wissen. Das Ereignis aber bleibt meine eigene Erfahrung, obwohl es der größte allgemeine Eindruck ist, welchen die Menschheit jemals hatte. Du weißt ja selbst, daß große Eindrücke und schwere Wunden erst nach und nach fühlbar werden und daß die Erinnerung den Augenblick der Verwundung oft auszustoßen trachtet. Es war jedenfalls ein Tag wie jeder andere Tag …«
    »Verzeih, B. H.«, unterbrach ich ihn neuerdings, »könntest du vielleicht das Datum dieses alltäglichen Wochentags näher bestimmen?«
    »Wenn dir mit einem Datum gedient ist«, zuckte er die Achseln, »bitte schön. Es war ein überaus bewölkter Freitag. Und sonst, was jedes Kind seit undenklichen Zeiten weiß, war’s ein dreizehnter November …«
    »Daß es heutzutage noch einen bewölkten Alltag oder gar einen echten grauen Novemberdreizehnten geben könnte, das scheint mir sehr zweifelhaft«, sagte ich, indem ich die seltsam trockene Luft einschnupperte und zum nackten, unbeschützten Blau des Himmels aufblickte.
    »Das hast du ganz richtig erkannt, F. W.«, lobte mich mein Freund. »Wolken sind eine große Köstlichkeit, die wir astromentalen Menschen hoch verehren …«
    »Aber zu einem echten dreizehnten November gehört eine Großstadt«, schloß ich, nicht ohne Starrsinn.
    »Mein Gott, du stehst doch auf dem Boden einer Großstadt«, erklärte B. H., leise enerviert.
    »Ich nehme an«, mokierte ich mich, »daß deine Großstadt an jenem dreizehnten November sich anders präsentiert hat.«
    »Das ist doch selbstverständlich, F. W.«, wies der Wiedergeborene meinen leichten Spott zurück. »Natürlich hat sie anders ausgesehen und hat hundert Jahre vorher und hundert Jahre nachher wieder ganz anders ausgesehen. Der Weg ist lang, mein Lieber, den ich komme. Damals, am dreizehnten November, gab es entweder noch oder schon wieder Häuser
über
der Erde. Das Mentelobol freilich war noch nicht bekannt. Wir bewegten nicht das Ziel auf uns zu, sondern uns auf das Ziel zu, mit enormer und höchst ungesunder Geschwindigkeit. Du hättest deine Freude gehabt an jener Großstadt. Man trat durch die labyrinthischsten Passagen auf die Straße hinaus. Es gab noch den fröhlichsten Unterschied zwischen Trottoir und Fahrbahn. Es gab dichten Verkehr. Oben flogen die Gyroplane. Ihre Geschwindigkeit machte sie so unsichtbar, wie du es zum Beispiel jetzt bist, F. W. Unten stauten sich Frauen und Männer und Kinder vor den mächtigen Schaufenstern, hinter welchen Tag und Nacht die glänzendsten Revuen und Operetten von großen Künstlern aufgeführt wurden. Sogar an den lieben Milchmann erinnere ich mich noch, dessen Wägelchen mit den Schlittenschellen von einem Hund gezogen wurde. Jene Zeit war halt ziemlich zurückgeblieben.«
    »Und es regnete«, versuchte ich B. H. aufs Thema zurückzubringen.
    »Nein, es regnete nicht«, sagte er versonnen, »es nieselte nicht einmal, es war nur sehr dunkel. Nachher stellten die Journalisten eine Weltuntergangsstimmung fest, die vorher geherrscht habe. Ich und niemand von meinem Kreis hatte das Geringste davon bemerkt. Freilich, das darf ich nicht vergessen: die furchtbare Aufregung der Vögel fiel selbst den naturblinden Großstädtern auf.«
    »Und wann begann das mit der Aufregung der Vögel?«
    »Es soll kurz nach Mitternacht begonnen haben. Durch einen seltenen Zufall verbrachte ich jene Nacht auf den dreizehnten zu Hause. Millionen von Vögeln fielen in die Großstadt ein, von der ich spreche. Bitte, frag nicht nach ihrem Namen. Ich weiß ihn absolut nicht mehr. Nach den Vögeln darfst du fragen, selbstverständlich. Alle Arten waren darunter, die es damals gab, große und kleine. Von Kondoren, Geiern, Habichten, Kormoranen herunter bis zu Schwalben, Meisen und Spatzen. Mehr Namen von Vögeln sind mir nicht mehr geläufig. Die flachen Dächer, Dachgärten, Schau- und Wohntürme, Balustraden, Antennen, Feinmetallgerüste zum Empfange kosmischer Wellen und Strahlen, die Anlagen der Fernsubstanzzerstörer, all das war schwarz, pechschwarz von großen
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