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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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denkt er.
    »Mord auf dem Ekeberg. PK später am Nachmittag. Das ist ein guter Einstieg, findest du nicht?«
    Er räuspert sich. »Ja, klar.« Er hört die Stimme, kann sie aber nicht als seine eigene identifizieren.
    »Wunderbar! Ich gehe davon aus, dass alle Henning Juul kennen und ich ihn nicht weiter vorstellen muss. Ihr wisst ja, was er durchgemacht hat, es wäre also schön, wenn ihr ihn herzlich willkommen heißen würdet. Niemand hat das mehr verdient als er.«
    Es wird still. Sein Gesicht glüht von innen, und irgendwie hat er das Gefühl, dass plötzlich mindestens doppelt so viele Personen im Raum sind wie noch vor sechzig Sekunden. Und alle sehen ihn an. Am liebsten würde er aufstehen und gehen. Aber das kann er nicht tun. Stattdessen hebt er den Blick und starrt auf einen Punkt an der Wand, über alle Köpfe hinweg, so glaubt hoffentlich jeder von ihnen, dass er gerade jemand anderen anguckt.
    »Die Zeit rast! Ich muss zur nächsten Sitzung. Steht noch was an? Musst du noch was wissen, bevor wir uns auf Leserjagd begeben?«
    Kåre wendet sich an den Chef vom Dienst, einen Mann mit schwarzer Brille, den Henning noch nie gesehen hat. Der Chef vom Dienst setzt an, etwas zu sagen, aber Kåre ist bereits aufgestanden.
    »Dann bleibt es dabei.«
    Er verlässt den Raum.
    »Ole und Anders, schickt ihr mir eure Listen?«
    Die Stimme des Dienstchefs ist dünn, und eine Antwort erhält er auch nicht. Henning könnte kaum glücklicher sein, als die Sitzung aufgehoben wird. Stühle scharren über den Boden, und an der Tür staut es sich. Er spürt warmen Atem in seinem Nacken, Leute, die ihn unabsichtlich anstoßen, es wird eng, schnürt ihm den Hals zu, aber er schafft es nach draußen, ohne jemanden anzurempeln oder in Panik zu geraten.
    Erleichtert holt er Luft. Seine Stirn glüht.
    Und gleich ein Mord, denkt Henning. Er hätte sich einen etwas ruhigeren Einstieg gewünscht, hatte gehofft, die ersten Tage dazu nutzen zu können, sich wieder einzugewöhnen, ein bisschen einzulesen und zu schauen, was in letzter Zeit so gelaufen ist. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, ein paar seiner alten Quellen anzurufen, um sich zurückzumelden. Sicher wäre es auch sinnvoll gewesen, sich wieder mit seinem Publikationswerkzeug vertraut zu machen, den Routinen im Haus, den Örtlichkeiten, sich mit seinen Kollegen zu unterhalten und Schritt für Schritt den Kopf wieder daran zu gewöhnen, in Artikeln zu denken.
    Das kann er jetzt alles vergessen.

5
    Wenige Minuten später geht er mit den schlimmsten Erwartungen an seinen Platz zurück. Als hätte sie ihn nicht kommen sehen, schwingt Heidi Kjus in just dem Augenblick auf ihrem Stuhl herum, als er ankommt. Sie steht auf, schenkt ihm ihr breitestes Lächeln und streckt ihm die Hand entgegen.
    »Hallo, Henning!«
    Professionelle Höflichkeit. Falsches Lächeln.
    Er entscheidet sich mitzuspielen und schlägt ein.
    »Hallo, Heidi.«
    »Gut, dich wieder hier zu haben.«
    »Ja, auch gut, wieder hier zu sein.«
    »Das ist gut … äh, ja.«
    Henning mustert sie. Wie immer strahlt ihr Blick sachlichen Ernst aus. Sie ist ambitioniert, nicht nur was sie selbst betrifft, sondern sie hat auch an die anderen hohe Erwartungen. Er ist sich ziemlich sicher, was sie denkt: Henning, du warst einmal mein Chef. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jetzt bin ich deine Vorgesetzte, und ich erwarte, dass du bla bla bla …
    Erstaunt stellt er fest, dass die Ermahnung ausbleibt. Stattdessen wartet sie schon mit der nächsten Überraschung auf.
    »Es hat mir wahnsinnig leidgetan, als ich gehört habe … gehört habe, was geschehen ist. Ich wollte nur sagen, falls du etwas brauchst oder doch noch mehr Zeit benötigst, um die Geschehnisse zu verarbeiten, sag einfach Bescheid, ja?«
    Ihre Stimme ist warm wie eine Schäre in der Nachmittagssonne. Er bedankt sich für ihr Mitgefühl und verspürt zum ersten Mal seit Langem das Bedürfnis, endlich wieder durchzustarten.
    »Iver ist also bei der Pressekonferenz?«, fragt er.
    »Ja. Er war gestern noch lange unterwegs und ist heute Morgen von zu Hause aus direkt dorthin gefahren.«
    »Wer ist Iver?«
    Heidi starrt ihn an, als hätte er gesagt, die Erde sei eine Scheibe.
    »Machst du Witze?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Iver Gundersen? Du weißt nicht, wer Iver Gundersen ist?«
    »Nein.«
    Heidi unterdrückt ein Lachen und richtet sich auf, als spräche sie mit einem Kind.
    »Wir haben Iver im letzten Sommer von der Web-Ausgabe der VG abgeworben.«
    »Ach
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