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Stelzvogel und Salzleiche

Stelzvogel und Salzleiche

Titel: Stelzvogel und Salzleiche
Autoren: Niklaus Schmid
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mir die Liste per Fax zu schicken, gab ihr meine Nummer und versprach, dass ich mich in den nächsten Tagen melden würde.
    »Wie kam es, dass die Leiche nach so langer Zeit plötzlich aufgetaucht ist?«
    »Auf dem Gelände der alten Salzabfüllanlage, wo sie gelegen hatte, soll demnächst gebaut werden. Leute von Planungsamt waren dort und dabei…«
    »Wo genau ist das?«
    »Bei Bad Sassendorf, nahe einem ehemaligen Militärgelände der belgischen Streitkräfte. Ich kann Ihnen mit der Namensliste eine Wegbeschreibung zufaxen.«
    »Schön. Eins müssen wir noch klarstellen: Sie geben mir einen Auftrag, in Ordnung, ich komme zurück in Ihre romantische Stadt, doch wenn man in einer so weit
    zurückliegenden Sache herumstochert, kann einiges zu Bruch gehen. Erwarten Sie aber nicht, dass ich hinterher dableibe, um die Scherben aufzuklauben.«
    Schweigend gingen wir die restliche Strecke über den östlichen Wall bis zu dem abschüssigen Ende am Osthofentor.
    Aus Anne Mehringers Blick, den sie mir schenkte, als ich mich hinters Steuer setzte und ihr noch einmal zuwinkte, wurde ich nicht klug. Hatte sie mich vorher regelrecht gedrängt, den Auftrag anzunehmen, so wurde ich jetzt das Gefühl nicht los, dass sie ihren Entschluss bereits bedauerte.
    6.
    »Alles ist möglich, du musst es nur wollen«, behauptete der Radiosprecher. Er verwies auf die kommende
    Werbeunterbrechung und bat die Hörer mit einer Dringlichkeit, als ginge es um Leben und Tod oder zumindest um
    persönlichen Erfolg oder absoluten Ruin, doch auf gar keinen Fall den Sender zu wechseln. Aufmerksamkeit war das Gold unserer Zeit.
    Ich fuhr über die A 44 und hatte Radio Vital eingeschaltet.
    Hinter mir verschwamm die Börde im Dauerregen.
    Sprechblasen quollen aus dem Lautsprecher. Ein
    Regionalpolitiker sprach über Fußball, anschließend ein Fußballspieler der Zweiten Liga über Politik. Alles war wie immer. Die Leute redeten am entschiedensten über jene Dinge, von denen sie keine Ahnung hatten. Und dazu nutzten sie bevorzugt die Hauptsendezeit, nachmittags zwischen sechzehn und achtzehn Uhr; Kaffee und Kuchen waren verdaut, beim Bügeln und auf dem Heimweg von der Arbeit oder dem Einkauf hörte man Radio, danach begann die Fernsehzeit, das Radio verschwand in der Nische.
    Der Sprecher kündigte die nächste Sendung an: »Und jetzt Das andere Fenster – unsere beliebte Sendung über Psychologie im Alltag mit Gregor Kelian. Heute geht es unter anderem um das Motivationstraining.« Zum Anschmecken brachte der Laberheini einen der uralten Aufheiterungswitze für Wochenendseminare: »Was ist der Unterschied zwischen einem Pessimisten und einem Optimisten. Na? Also, der Pessimist sagt: ›Alle Frauen sind verdorben‹, der Optimist sagt: ›Na hoffentlich!‹«
    Spätestens jetzt hätte ich normalerweise einen anderen Sender gesucht, doch ich wollte ja meinen Klienten Gregor Kelian hören. Also ließ ich die Werbung über mich ergehen, die ganze Palette vom Allzweckreiniger bis zum Zoobesuch.
    Auch eine neue Rasierklinge wurde angepriesen, die dreifach gelagert, vierfach gründlicher und von höherem technischem Stand als mein VW Passat war. »… mit nur einem Strich dieser Turbo-Klinge können Sie überall, ja selbst an den Problemzonen, heute schon den Bart von morgen rasieren…«
    Aber sicher doch, den Bart von morgen, den Zopf von gestern, den Muff von tausend Jahren, nur kurz einseifen, ein Strich, alles weg – und es erscheint der neue Mann, der neue Mensch, die neue Gesellschaft.
    Ich rieb mit Daumen und Zeigefinger über mein stoppeliges Kinn und merkte mir den Markennamen der Rasierklinge.
    Der Werbung folgte ein Schlager der aktuellen Hitparade und dann kam mein Klient. Um die Hörer zu ködern, unterbreitete er die Inhaltsangabe der Sendung in Form von Fragen: »Was wirkt als Anreiz? Ist unser Gefühl ein motivierendes Moment oder ein Trieb? Wie können wir unser Ziel erreichen? Und wenn wir es erreicht haben, wie verändert sich dann unsere Gefühlslage?«
    Der Anreiz weiter zuzuhören war bei mir schon vor der nächsten Werbeunterbrechung auf null gesunken. Außerdem musste ich mich auf den Verkehr konzentrieren. Als ich nach einer Weile wieder die Stimme meines Klienten vernahm, beschäftigte ihn das Thema ›Wie steuere ich mein
    Unterbewusstsein?‹. Gregor Kelian sprach zunächst über den Aufbau des menschlichen Hirns und danach von
    wissenschaftlichen Untersuchungen zum passiven Lernen per Kopfhörer: »… denn, liebe Hörerinnen
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