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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung
Autoren: Kat Martin
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außergewöhnlich verstört zu
sein. Ich dachte, Miss Jessica könnte vielleicht kurz mit ihr reden.«
    »Natürlich
werde ich mit ihr reden, Ozzie«, versicherte Jessie. »Hat sie ihren Namen
genannt?«
    »Mary
Thornhill, Miss. Sie scheint wirklich sehr aufgeregt, ich dachte ...«
    Jessie
schob sich an ihm vorbei, noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, dann
lief sie schnell über den Flur zur Treppe. Mary war eine Freundin von Anne
Bartlett, der Frau eines Pächters der Belmores. Anne war neunzehn, genauso alt
wie Jessie, und sie war hochschwanger. Das Baby konnte jeden Tag kommen. In den
Monaten, seit Jessie von Mrs. Seymours Privatakademie für die Erziehung junger
Damen zurückgekehrt war, hatte sich zwischen ihnen beiden eine zarte
Freundschaft entwickelt.
    Jessie lief
über den Marmorboden der Eingangshalle, der riesige Kronleuchter aus Kristall
über ihr klirrte leise. Mary stand mit blassem Gesicht im Roten Salon, ihre
ausdrucksvollen Augen waren vor Furcht geweitet. »Miss Jessie – Gott sei Dank
seid Ihr hier.«
    »Was ist,
Mary? Was ist geschehen?« Vor Angst zog sich Jessies Magen zusammen. »Ist
etwas mit Anne? Kommt das Baby schon?«
    »Ja, Miss.
Anne kämpft schon seit Stunden, um das Kind zur Welt zu bringen. Doch etwas
stimmt nicht, Miss. Deshalb bin ich gekommen.«
    Jessies
Angst wuchs. »Kann denn die Hebamme nicht etwas für sie tun?«
    »Die
Hebamme ist drüben in Longly, um einer anderen Frau bei der Geburt zu helfen.
Anne hat niemand anderen, der ihr beisteht, als mich, und ich kann ihr nicht
helfen.«
    »Was ist
mit ihrem Mann? Sicher hat James doch nach einem Arzt geschickt.«
    »James ist
auch nicht da. Er ist den Fluß hinaufgefahren mit Ware, die er in Southampton
verkaufen will. Ich war beim Arzt, aber er wollte nicht kommen, wenn er nicht
im voraus Geld er hält. Lieber Gott, ich wußte nicht, was ich noch tun sollte.
Da habe ich an Euch gedacht, Miss Jessie. Ich hoffte, daß Ihr uns das Geld für
den Arzt vielleicht leihen könnt.«
    »Natürlich
werde ich das tun.« Dieser elende Hurensohn, dachte Jessie, doch sie sprach die
Worte nicht laut aus. Sie hatte nicht mehr geflucht – wenigstens nicht laut –
seit dem Tag vor vier Jahren, als sie in Belmore Hall eingezogen war.
    »Ich habe
etwas Geld oben. Warte hier – ich bin in einer Minute wieder da.« Sie hob den
Saum ihres pfirsichfarbenen Musselinkleides und lief die Marmortreppe hinauf,
so schnell sie konnte. Heftig riß sie die Tür ihres Schlafzimmers auf.
    »Was ist
denn los, Lämmchen?« Viola kam auf sie zugelaufen.
    »Es geht um
Anne Bartlett, Vi. Sie hat Wehen, doch offensichtlich gibt's Schwierigkeiten.
Mary Thornhill ruft den Arzt. Ich muß zu Anne.«
    Viola ging
zur Tür. »Ich werde mitkommen.«
    Jessie
packte Vis Arm. »Ich werde schneller alleine dort sein. Wenn ich über die
Felder reite, bin ich in fünfzehn Minuten da.« Sie lief zu ihrer Kommode, hob
den Deckel ihrer Schmuckkassette und holte einen kleinen Lederbeutel mit
Münzen daraus hervor, die sie sich von ihrem Monatsgeld gespart hatte.
    »Bring dies
runter zu Mary.« Sie reichte Vi den Lederbeutel. »Der Arzt will nicht helfen,
wenn er nicht vorher sein Geld bekommt. Ich kehre zurück, sobald ich sicher
bin, daß es Anne gutgeht.«
    Vi nickte.
Nach all den Jahren wußte sie, daß es keinen Zweck hatte, mit Jessie zu
streiten, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Das Mädchen hatte
keine Ahnung vom Kinderkriegen, doch Schmerz und Blut waren nicht neu für sie.
Sie wußte alles, was zum Überleben nötig war, sie kannte Entschlossenheit und
Kraft. Wenn überhaupt jemand das Mädchen durchbringen würde, dann war es
Jessie. Vi nahm die Münzen und lief zur Treppe.
    In ihrem
Zimmer riß Jessie die Tür ihres Rosenholzschrankes auf und suchte etwas ganz
hinten im Schrank. Dann holte sie ein Bündel
schäbiger alter Kleider hervor. »Wenigstens sind sie sauber«, murmelte sie und
dachte an den Tag, als sie das Hemd und die grobe braune Hose das letzte Mal
getragen hatte. Beides hatte sie einem Stalljungen geklaut, als sie gerade vierzehn
Jahre alt war. Der Himmel allein wußte, warum sie die Sachen behalten hatte.
Doch die Tatsache, daß sie von der Hand in den Mund gelebt hatte, daß sie
ständig hungrig gewesen war und nichts anderes als Lumpen getragen hatte, hatte
sie zu einem Menschen gemacht, der alles aufbewahrte. Selbst bei einem so
luxuriösen Leben wie in Belmore waren alte Gewohnheiten nur schwer abzulegen.
    Sie knöpfte
die Hose zu,
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