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Stachel der Erinnerung

Stachel der Erinnerung

Titel: Stachel der Erinnerung
Autoren: F Henz
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Gaffer den Weg frei und Berit konnte mit dem Jeep auf das zum Parkplatz umfunktionierte Aussichtsplateau fahren.
    Auch im hellen Tageslicht war das Bild, das sich ihnen bot, schlicht atemberaubend. Der mächtige Rumpf glänzte tiefschwarz, der Tierkopf des Steven reckte sich majestätisch gegen den blauen Himmel. An der tiefer liegenden Längsseite arbeiteten die Männer des Bergungstrupps daran, ein Gerüst aufzubauen.
    Tessa kramte ihre Utensilien zusammen und machte sich mit Berit auf den Weg zur Fundstelle. Je näher sie kamen, desto deutlicher traten die ungeheuren Dimensionen des Schiffs zu Tage. „Mein Gott“, murmelte Tessa. „Das ist ja noch größer als das Osebergschiff! Warst du schon drinnen?“
    Berit schüttelte den Kopf. „Nein, sie haben den Zugang erst gestern so weit gesichert, dass man hineingehen konnte. Und da wollte ich dann auf dich warten.“
    „Sehr löblich.“ Tessa blinzelte ihr zu. „In so einem Schiff muss es unglaubliche Schätze geben. Es ist eines Herrschers würdig. Ich frage mich nur, wie es möglich ist, dass wir darüber keine Aufzeichnungen gefunden haben, nicht einmal andeutungsweise. Bisher wurde Bjørendahl in keinen uns bekannten Schriften erwähnt.“
    „Egal, das wird sich innerhalb der nächsten Wochen ändern.“
    Tessa drückte Berit den Zeichenkoffer in die Hand und begann damit, das Schiff zu fotografieren. Bisher hatte das Osebergschiff als das größte geborgene Bestattungsschiff der Wikinger gegolten. Heute befand es sich im Vikingskipshuset, einem Museum in Oslo. Geborgen worden war es vor mehr als 100 Jahren in Oseberg bei Tonsberg, der ältesten Stadt Norwegens. Man vermutete, dass die darin bestatteten Toten die Königin Asa mit ihrer Dienerin war. Grabbeigaben waren Schlitten, eisenbeschlagene Truhen mit verschiedenen gewebten Stoffen und Tonkrüge mit Honig oder gewürztem Wein.
    Das Osebergschiff wies eine Länge von 24 Metern auf, aber dieses Schiff – in Gedanken nannte Tessa es bereits das Bjørendahlschiff – war eindeutig größer, wenn man die sichtbaren Teile als Maßstab für die gesamte Konstruktion nahm.
    Der Bug mit dem kunstvoll geschnitzten Steven und ein Stück Rumpf ragten aus der Eiswand dahinter. Berit stand bereits beim Gerüst und wartete.
    Hendrik trat mit Helmen und Sicherungsgurten auf sie zu. „Wir wissen nicht, wie tragfähig das Holz ist. Es ist besser, wenn wir euch sichern. Darf ich mit von der Partie sein?“ Er lächelte aufmunternd und bittend zugleich, eine bei seinem Charme verheerende Kombination. Berit tauschte mit Tessa einen Blick, dann schüttelten sie beide den Kopf. „Später. Heute gehört es uns.“
    Diese unausgesprochene Einhelligkeit in ihren Anschauungen war eine ihrer großen Stärken als Team. Jede wusste, was die andere dachte, jede wusste, was die andere empfand. Fachlich lagen sie komplett auf der gleichen Wellenlänge und keine drängte sich in den Vordergrund. Das gemeinsame Ziel stand über allem. Und dieser Moment auf dem seit Jahrhunderten von keinem Menschen betretenen Wikingerschiff gehörte nur ihnen.
    Sie legten die Sicherungsgurte an – natürlich ließ es sich Hendrik nicht nehmen, den Sitz persönlich zu überprüfen und Tessa spürte neuerlich die Luft um sie herum knistern – und setzten die Helme auf. Dann stiegen sie das Gerüst bis zur Reling hoch. Das Abschlussrelief war mit einem fünfzehn Zentimeter breiten geschnitzten Fries verziert. Ineinander verschlungene, fein ausgearbeitete Ranken mit kleinen Blüten. Zum Teil waren die Schnitzereien abgebrochen oder mit Lehmbrocken beschmutzt, trotzdem würde die filigrane Arbeit jeden Laien beeindrucken und die beiden Frauen strichen fast ehrfürchtig darüber. „Wie unglaublich schön. Hast du so etwas schon einmal gesehen?“, fragte Berit, ohne den Blick von dem Fries zu wenden.
    „Nein, nicht in dieser Form. Nicht in dieser unglaublichen Feinheit.“
    „Das wird etwas ganz Großes, glaub mir. Wir werden berühmt.“ Berit nahm die Leiter, die auf dem Gerüst lag, und wuchtete sie mit Tessas Hilfe über die Reling. Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass die Leiter feststand, kletterte Berit hinüber ins Schiff und Tessa folgte ihr.
    Auch die Planken des Decks waren mit Schlamm bedeckt und so rutschig, dass die beiden Frauen Mühe hatten, nicht den Halt zu verlieren, obwohl sie Schuhe mit dicker Profilsohle trugen. Aber das Holz schien stabil zu sein und nicht brüchig, trotz des langen Schlafs im ewigen Eis.
    „Das muss auf
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