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Spuren in der Wüste

Spuren in der Wüste

Titel: Spuren in der Wüste
Autoren: Alexandra Cordes
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schma-
    len weißen Umschlag nicht an, der dazwischenlag.
    Der Mann trat vor. Sie sah sekundenlang seine Hand sehr deut-
    lich, magere braune Finger mit kurzen flachen Nägeln, es war eine
    Hand, der man weder Mitleid noch Zärtlichkeit zutrauen mochte.
    Er ergriff den Umschlag, steckte ihn ein.
    »Du bleibst hier, bis du Anweisung erhältst, was du als nächstes
    zu tun hast.« Statt des Umschlags warf er ein Päckchen Banknoten
    auf den Tisch.
    »Ich will das Geld nicht«, sagte sie.
    »Plötzlich Gewissensbisse? Sei nicht kindisch.« Und damit glitt er
    aus dem Zimmer.
    Irene blieb noch minutenlang stehen, starrte auf den irrlichtern-
    den Widerschein der Leuchtreklamen, lauschte, ohne einzelne Ge-
    räusche unterscheiden zu können oder zu wollen, dem nächtlichen
    Verkehr des Ku'damms, sah die offene Badezimmertür, das Licht,
    das sich in Kristall und blanken Fliesen spiegelte.
    Sie wußte nicht, was für Papiere sich in den Umschlägen befan-
    den, die sie von einer Hauptstadt zur anderen beförderte, sie wußte
    nur, daß der Mann ein Araber war und sie ihm auf Gedeih und
    Verderb ausgeliefert.
    Ich möchte sterben, dachte sie, ich möchte nichts als sterben.
    Aber sie war zu gesund, sie bekam keine schlimme Krankheit, die
    zum Tode geführt hätte. Sie hatte mit vol er Absicht zwei Autoun-
    fälle verursacht; einmal war sie gegen einen Brückenpfeiler gerast,
    einmal gegen einen Baum, aber beide Male war sie mit ein paar
    Prellungen davongekommen.
    Sie ging zum Bett; plötzlich versagten ihre Knie und sie fiel vorn-
    über.
    Sie lag lange da, wollte an nichts denken und dachte doch immer
    wieder, daß, wenn man einmal Schuld auf sich geladen hatte, eine
    große Schuld, sie nie zu sühnen war. Und daß man dieser Schuld
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    nicht entfliehen konnte, niemals im Leben und viel eicht nicht ein-
    mal durch den Tod.
    Sie lag, von stummem Weinen geschüttelt, als das Telefon klin-
    gelte; es dauerte lange, bis das Läuten überhaupt in ihr Bewußtsein
    drang.
    Als sie den Hörer abnahm, fragte Werner: »Habe ich dich ge-
    weckt?«
    »Nein, ja.«
    »Ich wol te dir nur sagen, Liebe, ich wol te dir nur sagen – ich bin so glücklich, daß wir uns kennengelernt haben. Und ich freue mich
    schon auf morgen.«
    »Ich auch«, flüsterte sie.
    »Gute Nacht, und schlaf gut, liebe Irene.«
    Das war schon einmal die Antwort gewesen, vor genau zehn Jah-
    ren. »Schlaf gut, liebe Irene.« Damals, auf die Misere zu Hause –
    den ewig arbeitslosen Vater, die ewig nörgelnde Mutter, im Winter
    war's zu kalt in der Wohnung, im Sommer zu heiß, und immer zu
    eng.
    Da lebten sie noch in New York und schliefen sommernachts auf
    der Plattform der Feuerleiter, weil es in den grauen kleinen Zim-
    mern keine Luft zum Atmen gab.
    Irene war damals zwanzig und arbeitete als Kel nerin in einem ita-
    lienischen Restaurant in der 54. Straße, und ihr Lohn war alles, was die Familie zum Leben hatte.
    Bis sie eines Tages Jim kennenlernte.
    Er feierte seinen vierzigsten Geburtstag im Gino's, er war blond
    und breitschultrig und hatte ein offenes, klares Gesicht.
    Von da an änderte sich ihr Leben total.
    Schon bald konnte ihr Vater eine kleine Farm anzahlen und end-
    lich wieder Boden beackern, und ihre Schwester konnte eine an-
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    ständige Schule besuchen – nur die beiden kleinen Brüder, die ihre
    Mutter zur Adoption fortgegeben hatte, kamen nie mehr zurück.
    Denk nicht mehr daran, befahl Irene sich selbst. Vergiß es, beson-
    ders alles, was danach kam.
    Sie stand auf, ging auf unsicheren Beinen ins Bad. Sie zog sich
    aus, betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, das, wenn sie allein war,
    sich unbeobachtet wußte, so erschöpft wirkte.
    Irene nahm zwei der Schlaftabletten, an die sie sich seit nun sechs
    Jahren gewöhnt hatte. Und als sie sich wieder auf das Bett fallen
    ließ, schlief sie ein, noch ehe sie die Decke über sich ziehen konn-
    te.
    Inge legte mit einer mutlosen und fahrigen Handbewegung den
    Telefonhörer auf.
    Sie zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief und betrachtete
    gleichzeitig mit Abscheu die vielen Kippen, die im Aschenbecher
    lagen. Sie betrachtete auch das Glas mit Abscheu, das den milchi-
    gen Rest eines Pernods enthielt, ein Getränk, das sie normalerweise
    nicht ausstehen konnte.
    Aber sie war an diesem Tag so durcheinander und so fertig mit
    den Nerven gewesen, daß sie irgend etwas brauchte, um sich zu be-
    ruhigen.
    Sie wanderte durch die Wohnung – ein Drei-Zimmer-Apparte-
    ment, ein großer
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