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Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)

Titel: Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Autoren: Kai Biermann , Martin Haase
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höherer Wahrscheinlichkeit als Aussagen, die am Beginn einer längeren Passage standen. So sagte Ziercke in der Debatte um die Netzsperren auch, es sei notwendig:
»Webseiten auszufiltern, […], Webseiten zu sperren, den Zugriff auf solche Webseiten deutlich zu erschweren.«
    Dabei ist ausfiltern das härteste Vorgehen in diesem Zusammenhang. Eine Seite zu sperren ist schon weniger drastisch, da sie in diesem Fall noch da ist und nicht ausgefiltert wurde; den Zugriff zu erschweren klingt hingegen fast schon harmlos. Bei allen drei Beschreibungen handelt es sich allerdings um dasselbe umstrittene Vorhaben, die schon erwähnten Stoppschilder . Im Gedächtnis des Zuhörers aber bleibt vor allem der letzte Ausdruck.

Entlarvende Floskeln
    Und dann gibt es noch die Phänomene der politischen Rhetorik, die so verbreitet sind, dass sie sich nicht einem einzelnen Volksvertreter zuordnen lassen. Ausgesprochen beliebt sind beispielsweise stereotype Floskeln. Sie sollen bei den Zuhörern Emotionen wecken, sorgen häufig aber vor allem für Irritationen.
    So hält seit einigen Jahren der Fußball Einzug in politische Reden. Da ist von Eigentoren die Rede, die Legislaturperiode wird in Halbzeiten eingeteilt, oder die SPD möchte glauben machen, ihr Parteivorsitzender sei der Spielführer . Die Partei Silvio Berlusconis ist gar nach dem italienischen Fußball-Schlachtruf Forza Italia! (»Los Italien!«) benannt. Das alles ist nicht dramatisch, zeigt aber, wie sehr Politik doch als Kampf begriffen wird. Was auch bedeutet, dass es nicht darum geht, mit den anderen Parteien und Gruppen zusammenzuarbeiten, sondern darum, sie zu besiegen.
    Um Kampf geht es auch in einem Interview, das der schon erwähnte Jörg Ziercke dem Deutschlandradio gegeben hat. Darin redet er über das »Internet als Tatmittel der Zukunft« und bemüht dabei zahlreiche Floskeln, die dank ihrer Häufung unschwer als solche erkennbar sind: So will Ziercke Beweise nicht etwa finden, sondern sie »verdichten«, er möchte im Internet nicht nach Tätern suchen, sondern gleich eine »Durchsuchung durchführen« und anschließend diverse »Netzwerke«, ein Neologismus für Netze, »zerschlagen«. Sehr martialisch. Allerdings klingt es auch so, als wenn dort jemand versucht, sein Tun ein wenig aufzuwerten.
    Der BKA-Präsident liefert auch ein schönes Beispiel dafür, wie eine Floskel missglücken kann: Er wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass »99,9 Prozent der Menschen in Deutschland« von der Online-Überwachung gar nicht betroffen seien. Was natürlich bedeutet, dass 80 000 Menschen, also eine mittelgroße Stadt, davon betroffen sind . Ziercke sagt das vor allem, weil er eine Aussage von Norbert Geis zurechtrücken will, dem rechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Der hatte zuvor von »99 Prozent« gesprochen, die nicht betroffen seien, was gar 800 000 Menschen zu Opfern der Überwachung machen würde. Aber im ersten Moment klingen die 99 Prozent beeindruckend hoch. Und darum geht es.
    Vor allem aber ist die politische Sprache inzwischen voll von stehenden Begriffen, die Politiker jeder Partei ohne Sinn und ohne Nachdenken in ihre Sätze streuen.
    Abweichungen jeder Art werden nicht einfach verurteilt, sondern immer »aufs Schärfste«; bestimmte Aspekte sind nicht nur wichtig, sie sind von »zentraler Bedeutung«, obwohl es gar keine dezentrale Bedeutung gibt; es wird nicht nach Lösungen gesucht, sondern nach »tragfähigen Lösungen«, auch wenn es dabei selten um Brücken geht und die Suche nach nicht tragfähigen sinnlos wäre; es geht nie um Probleme, immer aber um »gravierende Probleme«; die Atmosphäre eines Treffens ist nie gut, sie ist immer »offen und kooperativ«, oft sogar →   ergebnisoffen , was man eigentlich erwarten sollte, wenn zwei Seiten einen Gegenstand verhandeln wollen; es wird nicht einfach geredet oder diskutiert, denn das muss zumindest »intensiv« geschehen, und wenn dann eine Lösung gefunden wurde, muss man sich zu ihr »bekennen«, denn die getroffenen »schweren« Entscheidungen sind »am Ende des Tages« wahrscheinlich »unumgänglich«, →   alternativlos oder gar »unverzichtbar«. Da fragt dann niemand, warum dann so »heftig um sie gerungen« wurde.
    Viele dieser formelhaften Begriffe sind in der Alltagssprache entweder längst ausgestorben oder haben dort nie existiert. Nulltarif , Hemmschuh , Schmusekurs , Mogelpackung oder Schulterschluss sagt kein denkender Mensch. Politiker hingegen
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