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Spieltage

Spieltage

Titel: Spieltage
Autoren: Ronald Reng
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Blick aus zusammengekniffenen Augen unter buschigen, blonden Augenbrauen sein. Leger bindet er sich den langen weißen Schal um und lässt den Marinemantel offen, als er sich auf den Weg ins Stadion zur Platzbesichtigung mit der städtischen Kommission macht. Sie müssen das Spiel doch ausfallen lassen, so schnell kann trotz steigender Temperaturen die Eisschicht in den Strafräumen nicht geschmolzen sein. Und wenn sie misstrauisch werden, warum nur die Strafräume vereist sind?
    37 Jahre lang wissen nur die vier Beteiligten von der Sabotage im Stadion. Erwin Höffken stirbt mit dem Geheimnis, August Liese stirbt, Ottokar Wüst stirbt, ehe Heinz Höher im November 2011 zum Entschluss kommt, dass die Erinnerung fortleben soll. Er sagt seiner Frau, er reise nach Barcelona. Was macht er in Barcelona, fragen die Kinder und die Freunde seine Frau Doris. Aber sie weiß es doch auch nicht.
    Er ist 73. Auf dem Rücken trägt er einen neongelben Adidas-Rucksack aus den Achtzigern. Darin hat er einen Stapel Unterlagen mitgebracht, fünfzig Jahre alte Zeitungsartikel über seine Zeit als Bundesligaprofi beim MSV Duisburg, Notizen über Juri Judt, den er ganz alleine vom Kind zum Bundesligaprofi formte, Briefe von Banken, in denen es um Millionenschulden geht, Interneteinträge über Alkoholismus: sein Leben als Mann des Fußballs in einem Rucksack. Er verspürt einen diffusen Drang, über all das zu reden, und wählt als Gesprächspartner einen Schriftsteller in Barcelona, den er noch nie gesehen hat. Aber er fühlt sich ihm nahe, denn er hat seine Bücher gelesen. Heinz Höher hat sich in den Büchern, die er las, immer besser wiedererkannt, besser selbst verstanden als in Gesprächen. Es fiel ihm immer leichter, sich schriftlich als mündlich auszudrücken.
    So beginnen wir zu reden, schon bald nach dem ersten Abend in Barcelona auch in Briefen. Gleichzeitig tauchen die ersten Ankündigungen von Büchern zum 50-jährigen Jubiläum der Bundesliga auf, die tollsten Anekdoten, die denkwürdigsten Spiele, die größten Stars. Mit jedem Brief von Höher scheint die Diskrepanz größer zwischen dem, was ein Protagonist wie er in fünf Jahrzehnten Bundesliga erlebt hat, und den Schnipseln, die wir in Jubiläumsbüchern von 50 Jahren Bundesliga als vermeintlich repräsentativ bewahren möchten. Erfährt man nicht viel mehr über die Bundesliga, wenn man die Geschichte eines einzigen Mannes erzählt, als wenn man noch einmal all die Typen, Tore und Tabellen aufreiht?
    Heinz Höher war Bundestrainer Sepp Herbergers unerfüllte Hoffnung, als die Bundesliga 1963 startete, ein Außenstürmer, der für seine Pausen genauso bekannt war wie für sein elegantes Spiel. Er wurde der einzige Trainer, für den ein Präsident lieber die halbe Mannschaft feuerte statt wie üblich den Trainer, 1984 beim 1. FC Nürnberg, als die Spieler gegen Höher putschten. Er fiel nach Medikamentenmissbrauch auf dem Trainingsplatz um, er schrieb ein Kinderbuch. Als ihn die Arbeitslosigkeit erwischte, das unvermeidliche Zwischenschicksal eines Trainers, verdiente er sein Geld mit Skatspielen. Menschen, die ihm begegneten, sagen oft, sie könnten seine Ideen schwer nachvollziehen, der Heini Höher denke und lebe irgendwie auf einer anderen Ebene. Sie glauben, er sei komisch. Ich habe oft das Gefühl, er ist hochintelligent.
    Er hat in 50 Jahren Bundesliga Einzigartiges erlebt (und angestellt, wenn wir nur an die vereisten Strafräume in Bochum denken), und gleichzeitig verstand zumindest ich durch Heinz Höhers sehr eigenwillige Geschichte zum ersten Mal wirklich, wie sich die Bundesliga in den verschiedenen Epochen anfühlte, wie sich der Fußball veränderte und wie der Fußball einen Menschen verändern kann.
    Scheinbar unverändert liegt die dünne Schneedecke am Montagmittag, dem 16. Februar 1976, über dem Rasen des Stadions an der Castroper Straße. Nur ein paar Fußspuren sind im Schnee zu sehen. Das muss wohl der Platzwart gewesen sein. Mit den Schuhspitzen stochern die Männer der Platzkommission im Schnee und treten mit der Ferse besonders fest auf, die Gesichter in scheinbarer Konzentration auf den Boden gerichtet. Neben Dr. Johannes Freimuth, dem Sportdezernenten, und Walter Mahlendorf, dem Sportdirektor der Stadt Bochum, ist auch Max Merkel anwesend, der Trainer des FC Schalke 04. Heinz Brämer, der Wirtschaftsratsvorsitzende des VfL, nutzt die in Bochum seltene Kälte, um seine russische Fellmütze vorzuführen. Ottokar Wüst trägt als Einziger
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