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Spiels noch einmal

Spiels noch einmal

Titel: Spiels noch einmal
Autoren: Esi Edugyan
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der von dieser Schallplatte profitiert hat. Aber ich weiß auch, dass du dein Leben geopfert hättest, um den Jungen zu schützen. Er war wie ein Bruder für dich. Red dir nicht ein, dass es anders gewesen wäre.«
    Mir war ganz elend. Ich wollte aufstehen, aber Chip legte mir seine große Hand auf die Schulter.
    »Wo willst du hin?«, fragte er.
    »Ich muss ihm was sagen. Ich muss ihm noch was sagen.«
    »Warte, lass ihm ein bisschen Zeit. So was muss man erst mal verdauen.«

    Chip führte mich in Hieros Wohnzimmer, in den Raum mit der Wand aus Licht. »Ich zeig dir, was du gestern verpasst hast, weil du so früh schlafen gegangen bist.« Er lächelte freundlich. Ich sagte nichts; mir war schlecht. Chip öffnete die Tür eines Schränkchens, kniete sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hin und zog einen alten Milchkarton voller Schallplatten hervor. Er suchte darin herum, zog hin und wieder eine aus der Hülle und las das Etikett.
    »Was, er hat deine Schallplatten?«, murmelte ich.
    »Nein, Jazz ist gar nicht dabei«, sagte Chip. »Lauter Zeug, von dem ich noch nie was gehört hab. Schau mal: Adamo Didur, Miliza Korjus, Georg Mamstén, Marcella Sembrich.
Der Junge sagt, die meisten sind Polen, und dann gibt’s noch ein paar Finnen und Schweden. Aber du wirst es nicht glauben, wie das klingt. Hör dir das an.«
    Er trat an einen uralten Plattenspieler und setzte die Nadel auf die Rille einer Platte. Es knisterte, und dann setzte wie aus großer Entfernung eine goldene Frauenstimme ein. Sie klang sehr alt. Die Stimme stieg immer höher, wechselte kaum hörbar das Register und stieg weiter, gewann immer mehr Strahlkraft, scheinbar ohne jede Anstrengung. Sie sang in einer Sprache, die mir fremd war, vielleicht auf Polnisch. Die Stimme war hell und splittrig rau, und dann war sie einfach nur noch ein einziges überwältigendes Ganzes, und ich schloss die Augen und hatte ein Gefühl, als wäre immer noch alles möglich.
    Dann war es vorbei. Ich schlug die Augen auf. In der Tür stand Hiero, sein Gesicht merkwürdig ruhig.
    Chip stand auf, aber Hiero streckte ihm die flache Hand entgegen.
    »Ich brauche deine Hilfe nicht, Chip.«
    »Ich wollte sie dir gar nicht anbieten«, sagte Chip. »Ich habe einfach nur was Dringendes zu erledigen. Es wird eine längere Sitzung – ich hoffe, dass das Klopapier reicht.« Er warf mir einen Blick zu und ging.
    Die Platte drehte sich immer noch, das Knistern aus dem Lautsprecher klang unnatürlich laut in der plötzlichen Stille. Hiero stand in der Tür, die Augen gesenkt. Dann starrte er mich an, und mir war, als wollte er mich mit seinem Blick durchbohren.
    Er schlurfte vorwärts und setzte sich in seinen wuchtigen Ledersessel. Ich hatte das Gefühl, dass ich wieder von vorn anfangen, dass ich noch einmal meine Schuld bekennen muss
te. Schwer atmend, mit einem gedämpften Grunzen wandte Hiero das Gesicht den Feldern draußen vor den Fenstern zu und den sonderbar verdrehten Statuen. »Dieser Himmel, Sid, das ist der Himmel der großen Epen. Der großen polnischen Epen. Der des Pan Tadeusz .« Er spitzte ein bisschen die Lippen. »Das ist etwas, das mir wirklich fehlt, dieser Himmel.«
    Ich nickte.
    »Weißt du, ich habe ihn gesehen. Der Himmel war das Entscheidende, dieses großartige Licht. Es hat mich hierhergezogen, es war der Grund, warum ich geblieben bin.«
    Ich verstand, was das bedeutete, was er mir damit sagen wollte. Dass er blind war, hatte nichts mit dem KZ zu tun, und er wollte, dass ich das wusste. Daran zumindest war ich nicht schuld. Ich starrte ihn an, diese Augen, die so bleich waren, als legten sie Zeugnis ab vom Untergang einer Welt, vom Untergang und der Wiedergeburt einer Welt.
    Er legte die Handflächen auf seine Knie. »Was war das gerade? War das Marcella Sembrich? Ich habe das seit Jahren nicht mehr gehört. Ihre Stimme ist so, wie das Licht war.«
    Ich räusperte mich. »Ja, das finde ich auch.«
    Er richtete seine blicklosen Augen direkt auf mich. »Ich sehe dich, Sid«, sagte er aus seinem Dunkel. »Ich sehe dich wie vor fünfzig Jahren. Genau so.«
    Ich sagte nichts.
    Ein Knacken war zu hören, als die Nadel des Plattenspielers am Ende der Rille angekommen war.
    »Dreh sie um«, sagte Thomas ernst. »Spiel’s noch einmal.«


    Danksagung
    John Williams, Rebecca Gray, Pete Ayrton und allen Mitarbeitern von Serpent’s Tail und Key Porter Books in Toronto; Jackie Baker; Anne McDermid und ihren Kollegen; Hannah Westland und Margaret Halton von RCW ;
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