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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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Weinens. »Liebe ist etwas Wunderbares, aber sie tut weh«, hatte sie gesagt, nachdem sie sich von einem ihrer Kinder verabschiedet hatte. Trotzdem liebte sie ihre Gefühle, jedes einzelne. »Verlängere die Umarmung«, riet sie mir, »dehne den Kuß aus, zieh dich nicht zurück, schau dir an, was passiert. Gib dich hin, egal, ob es eine gute oder schlechte Erfahrung ist, sonst verpaßt du alles.«
    |184| Eine Viertelstunde vergeht, dann hält ein Polizeiwagen neben meinem Auto, und eine Taschenlampe wird auf mein Fenster gerichtet. »Alles in Ordnung?« fragt der Polizist.
    Ich nicke nur und wische mit einem Taschentuch über meine Augen und meine Nase. »Ich fahre bald weg«, sage ich. »Ich habe mich gerade von einer guten Freundin verabschiedet und bin ein bißchen traurig.«
    Anscheinend muß ich die Nacht verlängern, vielleicht, um Joans Leben zu verlängern. An ihren Lieblingsplätzen vorbeizufahren, könnte die Erinnerung festigen. Ich drehe den Schlüssel im Zündschloß und fahre in den Ort. Nichts wird hier je wieder so wie vorher sein. Die Kirche zieht mich an, und ich schaue zum Kirchturm hinauf, der normalerweise zur Erinnerung an jemanden erleuchtet wird, aber heute dunkel ist. Morgen muß ich den Pfarrer anrufen und ihn bitten, den Turm für Joan zu erleuchten. Laß dich auf den Geist des Abends ein, sage ich mir. Ein ganzes Leben verbrennt in diesem Moment – an dieser Nacht ist etwas sehr Heiliges.
    Ich fahre weiter, mit nicht mehr als dreißig Stundenkilometern, und werde zur Parallel Street geführt, wo ihr kleines grüngelbes Holzhaus steht – verdunkelt, die Vorhänge zugezogen. Das einst so lebendige Heim sieht jetzt verwahrlost und verloren aus – die Futterhäuschen sind verlassen, die Statue des Heiligen Franziskus ist nirgends zu sehen. Ein Stapel Zeitungen in der Einfahrt deutet darauf hin, daß die Bewohnerin seit einiger Zeit fort ist. Ein Stück die Straße hinunter komme ich an Joans kleiner Bank vorbei, ein zerbrechlich wirkendes Gebilde aus Holz und Metall, das ein wenig ihrer Erscheinung gleicht und doch als Bank stark genug ist, fast jeden zu tragen, was auch für Joan galt, die so vielen Trost und Inspiration war.
    Es ist die Nacht des halben Mondes – hell genug, um die Sterne zu überstrahlen   –, die Art Nacht, die nach Meditation, Nostalgie, erinnerten Gedichtzeilen verlangt. Das hatte ich |185| schon alles. In gewissem Sinne bin ich, während ich an ihrem Bett saß, ein letztes Mal mit ihr am Strand spazierengegangen – habe unsere Spuren zurückverfolgt, auf unsere Stationen zurückgeschaut, bin aus der Verwirrung aufgetaucht, und jetzt wird die Flut wieder jedes Anzeichen unserer Anwesenheit auslöschen. Trotzdem erscheint es mir passend, ein letztes Mal an den Strand zu gehen.
    Die Sonne ist längst im Meer versunken, und der Himmel wirkt um so riesiger und heller – heller denn je, weil heute ein glühender Mars zu sehen ist. Während die schäumende Flut meine Gedanken übertönt, nimmt meine Energie zu, und ich bin wieder mal allein schon durch das spielerische Meer belebt. Ich lasse mich auf einer dunklen Düne in den Sand sinken, an genau demselben Strand, an dem Joan und ich uns kennengelernt haben. Ist doch komisch, wie sich kleine, zufällige Begegnungen als wesentliche Punkte im Leben herausstellen. Erst vor drei Wochen saßen wir auf dieser Düne, aßen unsere Thunfischsandwiches, sprachen wenig, nahmen die Szenerie in uns auf. Sie war an dem Tag von den Streichen kleiner Kinder fasziniert und wie entzückt die Eltern darauf reagierten. »Wenn heute dein letzter Tag auf Erden wäre«, hatte ich sie gefragt, »was würdest du dann sagen wollen?«
    »Nimm dir jeden Tag Zeit zum Spielen«, antwortete sie, ohne auch nur einen Augenblick über die Frage nachzudenken. »Wir wären schrecklich dumm, wenn wir das nicht täten. Niemand wird dich dazu zwingen – niemand wird sagen, geh raus und spiele. Es ist eine Schande, daß es keine Lebensphilosophie gibt, die darauf besteht, daß wir spielen.«
    »Gibt es irgend etwas, das dir am meisten Freude macht?« fuhr ich fort.
    »Schau, bei dem, was ich tue, gibt es nichts, das mir keine Freude macht. Wenn ich es tue, dann freue ich mich daran. Aber spielerische Aktivitäten sind die besten, weil sie ziellos sind, das Ergebnis ist unbekannt, und sie sind voller Phantasie, |186| Imagination und zufälliger Entdeckungen. Womit ist das zu schlagen?«
    Ihre Stimme ist im Tod so deutlich, wie sie es im Leben war. Mehr
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