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Späte Heimkehr

Späte Heimkehr

Titel: Späte Heimkehr
Autoren: Di Morrissey
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Scheibe Toastbrot. Dazu ein Schälchen Pudding mit Apfelkompott, ein Becher mit heißer Schokolade, und als besondere Überraschung stand neben dem Ei ein mit bunten Zuckerstreuseln verzierter Muffin in einem Papierförmchen.
    Dann ließ sie Richie allein, der langsam und mit Vergnügen zu essen begann und die Toaststreifen gerade so tief in das Ei stippte, dass das Eigelb nicht oben herausquoll, genau wie Mrs. Anderson es ihm gezeigt hatte. Er spielte mit seinem Essen, summte vor sich hin, leckte sich die Finger ab und ließ Blasen in seinem Kakao blubbern. Das war doch viel schöner, als im kalten, ungemütlichen Esszimmer zu essen, wie er es fast jeden Abend tat.
    Normalerweise wurde er an den langen Esstisch aus Palisanderholz gesetzt, wo seine Beine in der Luft baumelten und die unangenehme Höhe es ihm noch zusätzlich erschwerte, mit Messer und Gabel zu hantieren. Am anderen Ende der Tafel saß Phillip Holten und verzehrte andächtig und aufmerksam sein Mahl. Gelegentlich legte er das Besteck zur Seite, nahm einen Schluck Rotwein und stellte dem kleinen Jungen eine Frage, der es jedoch schwierig fand, längere Antworten zu geben und gleichzeitig darauf zu achten, dass ihm die Erbsen nicht von der Gabel rollten. Er lernte, die Hände im Schoß zu falten, falls das Antworten mehr Zeit in Anspruch nahm, beim Sprechen dem strengen, ruhigen Blick seines Gegenübers nicht auszuweichen und seine Aufmerksamkeit anschließend wieder der komplizierten Angelegenheit der manierlichen Nahrungsaufnahme zu widmen.
    Mrs. Anderson servierte die einzelnen Gänge, lächelte ihrem kleinen Burschen, wie sie ihn heimlich nannte, aufmunternd zu und gab ihm hilfreiche Fingerzeige. Wenn sie die Teller in die Küche zurücktrug, meinte sie häufig mit einem Seufzer zu ihrem Mann Jim: »Der arme kleine Wurm. In seinem Alter sollte er eigentlich noch auf dem Schoß von seiner Mama sitzen und sich nicht mit großen Silbergabeln und Messern abplagen müssen.«
    »Wenn er da drinnen bestehen kann, dann wird er im Leben mit allem fertig«, antwortete Jim dann immer. »Misch dich nicht ein. Du kennst doch die Regeln – es hat keinen Zweck, darüber zu diskutieren, wie es anders sein könnte.«
    Das allabendliche Essensritual wurde genauso streng eingehalten wie zu der Zeit, als Phillip Holten selbst ein Junge gewesen war, und er hielt an der Weiterführung dieser Tradition fest. Aber für den kleinen Richie, der sich in der feinen Kleidung und den geschnürten Schuhen unwohl fühlte und sich allergrößte Mühe gab, sich gut zu benehmen, bedeutete es jedes Mal eine Tortur. Gegen Ende der Mahlzeit, wenn Mrs. Anderson ihm durch ein leichtes Kopfnicken das Zeichen gegeben hatte, sagte Richie sein Sprüchlein auf: »Darf ich bitte aufstehen?« Phillip Holten zündete sich dann seine Zigarre an und nickte. Mrs. Anderson wartete diskret an der Tür, bis er vom Stuhl gerutscht war und gute Nacht gewünscht hatte, um dann eilig in sein Schlafzimmer zu entfliehen.
    Aber heute, wo er das Abendessen ›zur Strafe‹ im Kinderzimmer einnehmen musste, trug er seinen Schlafanzug und kümmerte sich nicht darum, ob er krümelte oder mit dem Eigelb kleckerte. Jetzt war er ganz allein, konnte Weihnachten spielen und so tun, als säße er im Kreis seiner Familie und Freunde um den Tisch und würde Teller mit Truthahn und Plumpudding weiterreichen. Er lachte und freute sich über die fröhliche Stimmung, von der ihm nur die stummen Bilder in den verbotenen Büchern eine Vorstellung gaben.
    Später dann kam Mrs. Anderson, um das Tablett wegzuräumen und dafür zu sorgen, dass Richie sich wusch und die Zähne putzte. Sie lächelte, als sie ihn so fröhlich fand.
    »Soll ich dir noch eine Gutenachtgeschichte vorlesen, Spätzchen?«
    Richie nickte eifrig, kuschelte sich ins Bett und machte Platz für Mrs. Anderson, damit sie sich neben ihn setzen konnte.
    Es ging etwas langsam und schwerfällig, als sie mit leiser Stimme jeden Satz nach und nach zusammensetzte, aber Richie folgte der Geschichte dennoch voller Aufmerksamkeit, fuhr mit dem Finger die Sätze nach, die sie vorlas, und merkte sich jeden einzelnen. Er hatte sie so oft gehört, dass er das Buch Wort für Wort schon alleine ›lesen‹ konnte.
    Es stammte noch aus der Zeit, als seine Eltern Kinder gewesen waren, und gehörte zu der Art von Lektüre, die Phillip Holten für kleine Jungen als geeignet erachtete. Zu Weihnachten hatte Mrs. Anderson Richie einmal ein buntes Bilderbuch mit
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