Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute

Titel: Sonnenschein oder wie mir das Leben den Tag versaute
Autoren: Jochen Till
Vom Netzwerk:
Kartoffeln immer noch richtig heiß.
    Aber wie schaffte sie das mit den Klößen oder den Nudeln oder dem Fleisch? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht war sie eine Zauberin und hatte es vor 40 0 Jahren oder so von Merlin gelernt. Wer weiß?
    »Du siehst müde aus«, sagte die Zauberin. »War die Prüfung sehr anstrengend?«
    Immer war sie um mich besorgt. Ich war nicht müde, sondern betrunken. Der Whisky hatte ganz schön reingehauen. Der Whisky und die Traurigkeit, darum sah ich wohl ziemlich müde aus.
    »Nein, es ging. War nicht besonders schwer. Es geht mir gut.«
    »Nimm eine Vitamin-C-Tablette, dann kommst du wieder zu Kräften.«
    Ich hatte so meine Zweifel, ob Vitamin C ein erfolgreiches Mittel gegen Trunkenheit war, aber ich nahm trotzdem eine Tablette. Großmüttern sollte man nicht widersprechen. Nie. Sie wussten immer ganz genau, was gut für einen war. Essen und Vitamin C zum Beispiel.
    Das Essen schmeckte fantastisch, aber ich schaffte es nicht, meinen Teller leer zu essen. Zum Glück war ich zu alt, um dazu gezwungen zu werden. Kleine Kinder werden immer dazu gezwungen, ihre Teller leer zu essen. Ein grausames elterliches Ritual. Die reinste Folter. Als ich sechs war, zwang mich mein Vater einen ekligen, fettigen Brocken Gulasch zu essen. Ich jammerte und flehte ihn an und drohte nie mehr in meinem ganzen Leben etwas zu essen, aber es half alles nichts.
    »Du bleibst so lange hier sitzen, bis du das aufgegessen hast!«, sagte mein Vater.
    Wahrscheinlich würde ich jetzt noch da sitzen, wenn ich nicht zum Spielen verabredet gewesen wäre. Spielen war wichtig. Wichtiger als so ein blöder Brocken Gulasch jedenfalls. Mit Tränen in den Augen würgte ich das fettige Stück Fleisch herunter. Kaum dass es unten war, kam es schon wieder hoch und brachte alle seine Kameraden mit. Ich kotzte mitten auf den Küchentisch. Mein Vater flippte aus und scheuerte mir eine. Dieser Dummkopf. Ich hatte ihn doch gewarnt.
    »Mir wird schlecht, wenn ich das runterschlucke«, hatte ich gesagt, aber er wollte mir nicht glauben.
    Eltern sollten einfach mehr Vertrauen zu ihren Kindern haben. Zu den kleinen zumindest. Mein Vater hatte jedenfalls seine Lektion gelernt. Von diesem Tag an sah ich nie mehr auch nur ein Stückchen Fett auf meinem Teller.
    »Tut mir leid, Oma. Ich kann nicht mehr«, sagte ich.
    »Das macht nichts. Lass es stehen. Vielleicht kann Käthchen es nachher essen.«
    Käthchen bekam immer meine Reste. Schon allein, um ihr eine Freude zu machen, aß ich nie ganz auf.
    Ich zündete mir eine Zigarette an. Meine Großmutter auch. Sie rauchte ein Päckchen am Tag. Die leichten. Jeder versuchte sie zum Aufhören zu bewegen, aber sie rauchte einfach weiter. Wenn es nach ihrem Arzt ging, wäre sie bereits vor zehn Jahren an Lungenkrebs gestorben, doch sie war kerngesund. Mit 85.
    Das konnte man von Käthchen allerdings nicht behaupten. Sie jaulte immer schlimmer und schien sich schrecklich zu quälen. Sie tat mir so leid. Niemand sollte so sehr leiden müssen. Erst recht nicht so ein kleines, unschuldiges Wesen wie Käthchen. Diese komischen Zysten, die hätten es verdient, aufs Grausamste zu leiden.
    Großmutter und ich gingen ins Wohnzimmer. Nach dem Essen setzten wir uns immer ins Wohnzimmer und unterhielten uns. Meistens redete nur Großmutter und ich hörte zu. Sie erzählte Geschichten von früher, als mein Vater noch ein Junge war. Vieles konnte ich kaum glauben. Er muss mal ein richtiger Junge gewesen sein. Einer, der Streiche spielte und richtigen Mist baute. Wann hatte er sich bloß verwandelt? War es plötzlich geschehen? Wer war schuld daran? Außerirdische? Manchmal kam es mir jedenfalls so vor. Oder war es vielleicht eine Krankheit? Wenn ja, dann konnte ich nur beten, dass sie nicht erblich war. Wo war der Junge geblieben, von dem mir meine Großmutter immer erzählte? Vielleicht war es meine Schuld. Vielleicht musste für jeden Jungen, der geboren wurde, ein anderer verschwinden. Scheißsystem.
    »Hast du jetzt eigentlich eine Freundin?«, fragte meine Großmutter.
    Jede Woche fragte sie mich das. Anscheinend lag ihr sehr viel daran. Sie wollte unbedingt, dass ihr Bub glücklich war und dazu gehörte wohl eine Freundin.
    »Nein«, sagte ich.
    »Was ist denn mit dieser Kelly?«
    Kelly. Ich hätte sie nie zu meiner Großmutter mitnehmen dürfen, aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, einen Nachmittag mit meinen beiden Lieblingsmädchen zu verbringen.
    »Kelly und ich sind nur gute
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher