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Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)

Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)

Titel: Sonnenflügel: Roman. Band 2 der Fledermaus-Trilogie (German Edition)
Autoren: Kenneth Oppel
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kann“, meinte Marina. Sie betrachtete die Narbe, die Goths Zähne auf ihrem Handgelenk hinterlassen hatten. Auch Schatten war verwundet, ein Flügel war an zwei Stellen durchlöchert worden. Obwohl die Risse zugeheilt waren, fühlte er während des Fluges an der Stelle noch ein kaltes Brennen. Und oft überraschte er sich selbst dabei, wie er über den Flügel nach hinten schaute und beinahe damit rechnete, Goths riesige Silhouette zu entdecken.
    „Jetzt ist es nicht mehr weit.“
    Das war Ikarus vor ihnen.
    „Wir sollten jetzt bald über Grasland kommen. Und dann ist es nur noch eine Stunde Flug. Das hat Cassiel jedenfalls gesagt.“
    Schatten spitzte die Ohren beim Namen seines Vaters. Im letzten Frühjahr, noch bevor Schatten geboren worden war, hatte sich Cassiel auf die Suche nach einem merkwürdigen Gebäude der Menschen aufgemacht, nicht weit vom Hibernaculum entfernt, und er war nie zurückgekehrt. Von Eulen getötet, das hatten alle angenommen. Aber im vergangenen Herbst, als Schatten mit Marina südwärts flog, hatte er eine weiße Fledermaus getroffen. Sie hieß Zephir und konnte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hören.
    Und er hatte gesagt, dass Cassiel noch lebte.
    Schatten wusste nicht viel von seinem Vater. Nur dass er von den Menschen beringt worden war – und dass er sehnlichst erfahren wollte, was das alles zu bedeuten hatte. Er musste geglaubt haben, dass er bei dem Gebäude die Antwort erhalten würde. Und Schatten war sicher, dass er ihn dort schließlich finden würde, den Vater, den er nie gekannt hatte.
    Plötzlich sah er, wie vor ihnen Frieda ihren linken Flügel in stiller Warnung ausstreckte, und sofort bog er mit Marina zum nächsten Baum ab. Er grub seine Krallen in die vereiste Rinde, ließ sich mit dem Kopf nach unten hängen, legte eng die Flügel an und versuchte wie ein Eiszapfen auszusehen. Er hörte noch, wie unterhalb von ihm die anderen rasch ihre Ruheplätze fanden, dann herrschte Stille.
    „Siehst du was?“, flüsterte er zu Marina.
    Sie schüttelte den Kopf. Vorsichtig strich er mit Tönen über die Bäume, beobachtete, wie die zurückgeworfenen Echos vor seinem inneren Auge Bilder malten. Da!
    Mit ihrem weißen Gefieder war die Eule vor den verschneiten Ästen so gut getarnt, dass Schatten sie mit den Augen leicht hätte übersehen können. Aber von seinem Klang-Sehen erfasst glänzte die Eule wie Quecksilber. Es war ein geflügelter Riese, mit Leichtigkeit viermal so groß wie er selber. Ein Tod bringendes Bündel von Federn, Muskeln und Klauen, die riesigen mondförmigen Augen weit aufgerissen. Noch fünfzig Flügelschläge und er wäre direkt in sie hineingeflogen. Er hätte besser aufpassen sollen.
    Der bloße Anblick erfüllte ihn mit Abscheu. Seit Millionen von Jahren patrouillierten die Eulen in der Abend- und der Morgendämmerung am Himmel, um sicherzustellen, dass die Fledermäuse nie die Sonne zu sehen bekamen. Nach dem Gesetz konnte jede Fledermaus, die während des Tages entdeckt wurde, gejagt und getötet werden.
    So wie sie beinahe auch Schatten im letzten Herbst getötet hatten. Er konnte sich an jene Morgendämmerung so deutlich erinnern, wie er im Verborgenen gewartet hatte, um nur einen kurzen Blick auf die aufgehende Sonne zu werfen. Er musste sie einfach sehen. Und er hatte sie auch gesehen, ein strahlendes Scheibchen von ihr, das immer noch glorreich in seinem Gedächtnis brannte. Aber was danach passiert war, das war alles andere als glorreich gewesen. Zur Vergeltung hatten die Eulen den Baumhort niedergebrannt, die uralte Behausung seiner Kolonie für die Mütter und ihre Jungen. Er zuckte zusammen bei der Erinnerung an die rauchenden, zusammengesackten Ruinen seiner Heimstatt. Das war der Preis, den alle für seinen Blick auf die Sonne hatten zahlen müssen.
    Er starrte auf die Eule. Nun war nicht einmal mehr der nächtliche Himmel sicher. Erst vor Monaten hatten die Eulen ihnen den Krieg erklärt, weil sie überzeugt waren, dass die Fledermäuse Vögel umbrächten. Die einzigen Fledermäuse, die Schatten kannte und die Vögel töteten, waren Goth und Throbb, aber die Eulen wollten das nicht glauben.
    „Was macht sie hier draußen?“, flüsterte er Marina zu.
    Schließlich war es mitten im Winter und die Eule sollte ihren Winterschlaf halten. Wie wir, dachte Schatten mit einem plötzlichen Anflug schlechten Gewissens. Es war seine Idee gewesen, mitten im tiefsten Winter zu seinem Vater aufzubrechen. Aber er hatte sich nicht vorgestellt,
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