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Sommerkind

Sommerkind

Titel: Sommerkind
Autoren: Diane Chamberlain
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zurück. Das Meer war so leise, dass sie ihr Herz laut in den Ohren pochen hörte. Als sie vor dem Panzer stand, zwang sie sich, nach unten zu sehen.
    Es
war
ein Baby, ein nacktes Baby. Es war nicht nur blutbefleckt, sondern lag auch noch neben einem Haufen, der wie ein matschiger Blutberg aussah. Und es war
wirklich
am Leben. Daran gab es keinen Zweifel: Das Baby drehte sein Köpfchen zum Meer und stieß zwischen seinen puppenhaften Lippen ein leises Wimmern aus.
    Obwohl ihr schwarz vor Augen wurde, zog Daria ihr Top aus und kniete sich in den Sand. Vorsichtig wickelte sie den Stoff um das Kind, um dann erschrocken zurückzuweichen. Der Blutberg war mit dem Baby verbunden! Man konnte ihn nicht einfach dort liegen lassen. Sie biss die Zähne zusammen, wickelte alles in ihr Top ein – Baby, Blutberg und ein halbes Dutzend Muscheln – und stand auf. Das Bündel in den Armen, rannte sie so schnell sie konnte zum Sea Shanty. Nur ein einziges Mal blieb sie stehen, weil sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Doch als sie spürte, wie das zarte Leben in ihrem Arm zitterte, zwang sie sich zum Weitergehen.
    Im Sea Shanty angekommen, legte sie das Bündel auf den Küchentisch. Ihr Top hatte sich mit Blut vollgesogen, und als Daria die Treppen zum Schlafzimmer ihrer Eltern hinaufrannte, merkte sie, dass auch ihre nackte Brust blutverschmiert war.
    “Mom!” Sie hämmerte gegen die Schlafzimmertür. “Daddy!”
    Hinter der Tür hörte sie die schweren Schritte ihres Vaters. Einen Augenblick später kam er heraus. Er band sich gerade die Krawatte. Sein dickes, sonst wirres schwarzes Haar hatte er für die Kirche ordentlich zurechtgekämmt. Hinter ihm lag Darias Mutter noch schlafend im Ehebett.
    “Shhh.” Ihr Vater hielt den Zeigefinger vor die Lippen. “Was ist los?” Als er die Blutspur auf ihrer Brust sah, riss er die Augen auf. Er packte sie bei den Schultern. “Was ist passiert? Bist du verletzt?”
    “Ich habe ein Baby am Strand gefunden!”, sagte sie. “Es lebt, aber es ist völlig …”
    “Was hast du gesagt?” Ihre Mutter setzte sich auf. Die Haare standen ihr an einer Seite vom Kopf ab. Mit einem Mal war sie hellwach.
    “Ich habe ein Baby am Strand gefunden”, wiederholte Daria und sauste an ihrem Vater vorbei zum Bett. Sie zerrte an der Hand ihrer Mutter.
    “Es liegt unten auf dem Küchentisch. Ich habe solche Angst, dass es stirbt. Es ist so klein, und überall ist Blut.”
    Im Nu war Darias Mutter auf den Beinen. So schnell hatte sie sich seit Monaten nicht mehr bewegt. Sie schlüpfte in Bademantel und Hausschuhe und stürmte noch vor ihrem Mann und Daria die Stufen hinunter.
    Das Baby lag noch immer genau dort, wo Daria es hingelegt hatte, und zwar so reglos, dass sie fürchtete, nun sei es wirklich tot. Ihre Mutter ließ sich nicht eine Sekunde von dem Blut beirren, und Daria war von der Entschlossenheit, mit der sie das blutrote Top entfernte, beeindruckt.
    “Heiliger Vater im Himmel!”, sagte Darias Dad und wich einen Schritt zurück. Ihre Mutter hingegen bewegte sich mit den routinierten Handgriffen der Krankenschwester, die sie einst gewesen war, in der Küche. Sie füllte einen Topf mit Wasser und stellte ihn auf den Herd, befeuchtete dann ein Handtuch und säuberte damit das Baby.
    Daria stand dicht neben ihr. Die sachliche Art, mit der ihre Mutter die Situation meisterte, beruhigte sie. “Warum ist es so blutig?”, fragte sie.
    “Weil es ein Neugeborenes ist”, erklärte ihre Mutter. “Weil
sie
ein Neugeborenes ist.”
    Bei näherem Hinsehen erkannte auch Daria, dass es ein Mädchen war.
    “Wo genau hast du sie gefunden?”, wollte ihre Mutter wissen.
    “Sie lag unter dem Panzer eines Pfeilschwanzkrebses”.
    “Unter einem Panzer?”
    “Zwischen all den Muscheln, die die Flut angespült hat. Glaubst du, der Sturm letzte Nacht hat sie an den Strand gespült?”
    Ihre Mutter schüttelte den Kopf. “Nein. Dann wäre sie sauber. Und sie wäre tot.” Ihre Unterlippe zitterte, und ihre Nasenlöcher bebten vor Zorn. “Nein, irgendjemand hat sie einfach dort liegen lassen.”
    “Ich rufe jetzt die Polizei.” Darias Vater ging zum Telefon im Wohnzimmer. Sein Gesicht war aschfahl. Tante Josie, die gerade auf dem Weg in die Küche war, kam ihm entgegen.
    “Was ist denn hier los?”, fragte sie. “Oh mein Gott!” Beim Blick zum Küchentisch schlug sie die Hände vor den Mund.
    “Ich habe sie am Strand gefunden”, erklärte Daria.
    “Wie, ganz allein?”, fragte Tante Josie.
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