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Sommerhit: Roman (German Edition)

Sommerhit: Roman (German Edition)

Titel: Sommerhit: Roman (German Edition)
Autoren: Tom Liehr
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ich um ein Bier bat. Hier und da wurde gekichert. »Sie handelt von zwei Jungen. Von einer Schulklasse. Es ist eine merkwürdige Geschichte, sie spielt in den Achtzigern. Der eine Junge sah seltsam aus, hatte starke Käsefüße und fleischige Lippen, seine Klassenkameraden nannten ihn »Riesenbaby«, wenn sie ihn nicht gerade, wie man heute so schön verniedlichend sagt,
mobbten
– oder einfach ignorierten, was ihn fast noch mehr schmerzte. Diese Junge steigerte sich in eine Soziophobie, aber er kompensierte seine Ängste, die so groß waren, dass er vor Klassenreisen händeringendnach guten Ausreden dafür suchte, nicht mitfahren zu müssen. Zu seinem Unglück hatte er nicht sonderlich verständnisvolle Eltern.«
    Chrissie brachte mein Bier, ich nahm einen langen Schluck. »Prost!«, rief Gerry. Ich nickte ihm zu, hätte gerne fies dabei gegrinst.
    »Danke, Gerry, du armseliges Arschloch.«
    Das Publikum ganz vorne, das diesen etwas leiser gesprochenen Satz verstanden hatte, atmete synchron und hörbar ein. Gerald rief etwas, aber ich ignorierte ihn.
    »Dieser Junge kompensierte seine Ängste, wie gesagt. Er war ein recht talentierter Jungfilmer, und was immer ihn beschäftigte, bannte er auf Super-8. Damals waren Videokameras noch unerschwinglich. Der Junge, nennen wir ihn doch einfach«, ich legte eine kurze Kunstpause ein, »
Arndt
. Er ist vor ziemlich genau zwanzig Jahren gestorben, an Leukämie.«
    Jetzt wurde es deutlich unruhig. Thomas verzog das Gesicht auf böse Art und wies mit dem rechten Zeigefinger auf mich. Das sollte eine bedrohliche Geste sein, wie ich vermutete, doch sie verpuffte. Immerhin schien er dem wahren Kern der Sache inzwischen näher gekommen zu sein. Überall im Saal setzte Getuschel ein.
    »Ich war nicht bei seiner Beerdingung, weil ich zu spät davon gehört habe. Aber ich weiß, dass Arndt nie erfahren hat, was Freunde sind. In seiner Jugendzeit hatte er nur mit Leuten zu tun, für die Freundschaft daraus bestand, Cliquen zu bilden, die andere auf jede nur denkbare Weise drangsalierten.«
    Ich nahm einen weiteren Schluck und sah zu Tine, die mich anstrahlte.
    »Der andere Junge, von dem ich erzählen möchte, war ein dicker Ostler, ein DDR-Flüchtling, der in den Achtzigern in dieselbe Klasse kam, in der auch Arndt war. Nennen wir diesen dicken Ostler doch einfach … Moment mal.«
    Ich zog das laminierte Schildchen aus der Jacketttasche und heftete es mir ans Revers.
    »Nennen wir ihn Falk Lutter.«
    Die rothaarige Sabine schlug sich die Hand vor den Mund. Herr Bährmann nickte bedächtig und ließ dabei die Schultern sinken. Gleichzeitig wurde es völlig still im Saal, beinahe meinte ich, die Gänsehautfluten zu spüren. In diesem Moment roch ich den Angstschweiß, der in viele Achselhöhlen kroch.
    »Dieser Falk Lutter war, wie ihr alle, Zeuge und Mittäter bei einem abscheulichen Vorgang, der von diesen drei Herren hier«, ich wies auf das Triumvirat, »inszeniert worden war und bei dem ihr alle mitgemacht habt. Falk war jedoch, soweit ich weiß, der Einzige, der später versucht hat, etwas gegen die Haupttäter zu unternehmen. Als Revanche dafür wurde er überfallen und schwer misshandelt. Auch von diesen drei Herren hier.« Ich wies abermals auf Gerry, Thomas und Henning. »Leider haben sie ein anderes Ergebnis erzielt, als sie sich gewünscht hatten. Dieses Ergebnis sitzt hier vor euch und möchte euch zur Erinnerung ein kleines Liedchen spielen, bei dem ihr damals viel Spaß hattet. Falk Lutter und ein paar andere allerdings nicht so sehr.«
    Jetzt hatte auch der Letzte im Saal begriffen, was soeben auf der Bühne geschah. Ich nickte dem DJ zu, er schaltete die Bühnenbeleuchtung ab und startete die DVD.
    Niemand sang mit, als ich jetzt zur Musik, die ich im Studio aufgenommen hatte, »Comment ça va?« spielte, während hinter mir der auf DVD kopierte Super-8-Film von Arndt lief. Sie starrten fassungslos auf die Leinwand, und dieses Mal war ich es, der den Refrain bösartig intonierte. Ich versuchte, jedem, der in meiner Nähe stand, ins Gesicht zu sehen, während ich »Kommssie, kommssie, komm
ssah!
« rief, fast schon brüllte. Plötzlich mochte ich den doofen Song. Bei den Proben, alleine im Studio, hatte er mir noch Gänsehaut verschafft.
    Das Stück dauerte knapp drei Minuten. Der Super-8-Film war in der geschnittenen, von einer Spezialbude übertragenen und aufgepeppten Fassung doppelt so lang. Durch die Aufhellung und Kontrasterhöhung konnte man jetzt in einigen
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