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Sommerbuch

Sommerbuch

Titel: Sommerbuch
Autoren: Tove Jansson
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kleine Eule. Sie saß auf einem Zweig, eine Silhouette gegen den Abendhimmel. Auf der Insel war noch nie eine Eule gewesen.
    Eines Morgens fand Sophia den Schädel von einem großen Tier. Er war beschädigt. Sie hatte ihn ganz allein gefunden. Die Großmutter meinte, es sei der Schädel von einem Seehund. Sie legten ihn behutsam in einen Korb und warteten bis zum Abend. Der Sonnenuntergang hatte nur rote Farben, das Licht überströmte die ganze Insel, sogar die Erde wurde rot. Sie legten den Schädel in den Gespensterwald, und dort lag er nun und seine Zähne leuchteten!
    Plötzlich begann Sophia zu schreien. »Nimm ihn fort !« schrie sie. »Nimm ihn fort !« Die Großmutter nahm sie schnell in den Arm, fand es aber am besten, nichts zu sagen.
    Nach einem Weilchen war Sophia eingeschlafen. Die Großmutter blieb sitzen und überlegte sich ein Häuschen aus Streichholzschachteln im Sand, hinter dem Sommerhaus bei den Blaubeersträuchern. Man könnte einen Bootssteg und Fenster aus Silberpapier bauen.
    So mußten die Tiere aus Holz im Wald außer Sicht kommen. Die Arabesken sanken in den Boden und wurden grün von dem Moos, das sie überzog, und mit der Zeit umschlangen die Bäume einander mehr und mehr.
    Wenn die Dämmerung kam, ging die Großmutter oft allein in den Gespensterwald. Doch mitten am Tage saß sie auf den Verandastufen und schnitzte Borkenschiffchen.

Die Eisente

    Eines Morgens, noch vor Dämmerung, wurde es im Gästezimmer kalt. Die Großmutter bedeckte sich mit dem Flickenteppich und mit zwei, drei Regenmänteln, die sie vom Wandhaken nahm, aber es half nicht viel. Ihrer Meinung nach kam es vom Moor. Moor ist seltsam. Moorlöcher kann man mit Steinen, Sand und alten Balken füllen, und obendrauf noch einen Platz mit mehreren Holzstapeln einrichten, aber das Moor benimmt sich weiter wie Moor. In den ersten Frühlingstagen atmet es Eis aus und bläst seinen eigenen Nebel wie zum Andenken an jene Zeiten, da es dort schwarze Wasserlöcher gab und die unberührten Rispen von Riedgras. Die Großmutter sah, daß der Petroleumofen ausgegangen war, und blickte auf die Uhr. Es war drei. Sie stand auf, zog sich an, nahm den Stock und kletterte die Steintreppe hinab. Die Nacht war windstill, die Großmutter hatte Lust, den Eisenten zu lauschen.
    Nicht nur der Platz mit den Holzstapeln, die ganze Insel war in Nebel eingehüllt, und es herrschte jene intensive Stille, die es gerade Anfang Mai am Meer geben kann. Die Wassertropfen fielen von den Zweigen, in der Stille deutlich wahrnehmbar. Noch wuchs nichts, an der Nordseite lagen noch Schneeflecken. Die Landschaft war erfüllt von Erwartung. Die Großmutter hörte, wie die Eisenten gagelten . Das Gageln ist ihr Schrei. Man hört es in immer größerer Entfernung, zu sehen sind diese Vögel nie. Sie sind genauso geheimnisvoll wie der Wiesenknarrer , der sich aber einsam und verborgen in der Wiese aufhält. Die Eisenten leben noch hinter den letzten Schären im offenen Meer, und in riesigen Hochzeitsscharen singen sie die ganze Frühlingsnacht hindurch.
    Die Großmutter stieg auf den Fels, wanderte weiter und dachte über die Vögel nach. Es schien ihr, als ob kein anderes Tier so vollständig und dramatisch den Wandel der Zeiten auszudrücken vermochte, den Wechsel der Jahreszeiten und des Wetters, den man selbst spüren konnte, wenn man ihn erfährt. Sie dachte an die Zugvögel und den Star am Sommerabend, an den Kuckuck, ja den Kuckuck, und an die großen kalten Vögel, wie sie dahinsegeln und spähen, und an die ganz kleinen, die in spätsommerlicher Gesellschaft einen schnellen Besuch machten, kugelrunde, dumme und furchtlose Vögel, und an die Schwalben, die nur in jene Häuser ziehen, in denen man glücklich ist. Seltsam, daß diese gewöhnlichen Vögel eine solche Bedeutung haben konnten. Oder vielleicht doch nicht? Für die Großmutter bedeuteten die Eisenten Erwartung und Wiedererweckung. Mit ihren steifen Beinen ging sie vorsichtig über den Felsenberg, und als sie an das Spielhäuschen kam, klopfte sie ans Fenster. Sophia wachte sofort auf und kam hinaus.
    »Ich gehe mir die Eisenten anhören«, sagte die Großmutter. Sophia zog sich an, und sie gingen zusammen weiter. An der Ostseite der Insel lagen um die Steine herum kleine Eisränder. Niemand hatte bisher Holz gesammelt, und das ganze Ufer war voll von Schwemmholz, eine sich breit wölbende Trosse aus ineinandergeschobenen Brettern, Tang und Schilf. Dort lagen Grubenholz und spröde Holzkisten, die
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