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Sommerbuch

Sommerbuch

Titel: Sommerbuch
Autoren: Tove Jansson
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und bogen, was sie fanden, und machten breite leere Wege bis zu dem Platz, wo ihre Funde stehen sollten. Die Großmutter sah, daß es nicht gut wurde, sie sagte aber nichts. Sie machte das Boot sauber und wartete ab, bis sie den Gespensterwald satt hatten. Jetzt ging sie allein hinein. Sie kroch langsam an dem Wasserloch und dem Farnkraut vorbei. Wenn sie müde wurde, legte sie sich auf die Erde und guckte durch das Blattwerk grauer Flechten und Zweige. Die anderen fragten sie dann, wo sie gewesen sei, und sie antwortete, daß sie vielleicht ein Weilchen geschlafen habe.
    Außerhalb des Gespensterwaldes wurde die Insel ein Park von Ordnung und Gepflegtheit. Sie putzten und hegten sie bis zum kleinsten Zweig, während der Frühlingsregen die Erde tränkte, und von Inselspitze zu Inselspitze und hinab an den Sandstrand führten nur schmale Pfade.
    Nur Bauern und Sommergäste treten auf das Moos. Sie verstehen nämlich nicht — es kann nicht oft genug wiederholt werden — , daß Moos das Empfindlichste ist, was es gibt. Man tritt auf das Moos, und es richtet sich nach dem Regen wieder auf, ein zweites Mal tut es das nicht. Geht man ein drittes Mal über Moos, ist es tot. Genauso ist es mit den Eiderenten: schreckt man sie ein drittes Mal aus ihrem Nest auf, kommen sie nicht mehr zurück. Irgendwann im Juli putzte sich das Moos immer mit langstieligen Gräsern. Alle Rispen öffneten sich in einer vom Boden her gesehen genau gleichen Höhe, und sie wiegten sich im Wind wie auf den Wiesen des Festlandes. Zu dieser Zeit war die ganze Insel überzogen von einem Schleier von Wärme, kaum wahrnehmbar, und nach einer Woche war er verschwunden. Nirgends ließ sich Unberührtheit und Wildnis stärker spüren.
    Indessen saß die Großmutter im Gespensterwald und schnitzte fremdartige Tiere. Sie schnitzte sie aus Zweigen und Holzstückchen und gab ihnen Pfoten und Gesichter. Aber sie deutete nur an, machte ihr Aussehen niemals genau. Sie behielten ihre Seele aus Holz, und die Krümmung des Rückens oder der Beine hatte seine eigne geheimnisvolle Form, so wie sie gewachsen waren, und sie blieben ein Teil des modernden Waldes. Manchmal schnitzte die Großmutter sie direkt aus einem Baumstumpf oder Stamm. Die Holztiere wurden immer mehr, und sie saßen festgeklemmt oder rittlings in den Bäumen, lehnten gegen den Stamm oder waren in die Erde gedrückt, mit ausgestreckten Armen sanken sie ins Moorwasser oder lagen friedlich zusammengerollt und schliefen bei einer Wurzel. Manchmal formten sich auch nur Umrisse im Schatten, zwei oder drei gleichzeitig, vereint miteinander, in Liebe oder auch im Streit.
    Die Großmutter benutzte nur altes Holz, das seine Form bereits gefunden hatte, das heißt, sie sah und wählte nur das Holz, das schon zum Ausdruck brachte, was sie wollte. Einmal hatte die Großmutter einen großen weißen Rückenwirbel im Sand gefunden. Er war zu hart, um damit zu arbeiten, konnte auch gar nicht schöner werden. So legte sie ihn in den Gespensterwald, wie er war. Sie fand noch mehr Knochen, grau geworden oder ausgeblichen, alle vom Meer ans Land gespült.
    »Was machst du eigentlich ?« fragte Sophia.
    »Ich spiele«, antwortete die Großmutter.
    Sophia kroch in den Gespensterwald hinein und besah sich alles, was die Großmutter gemacht hatte.
    »Eröffnest du eine Kunstausstellung ?« fragte sie. Doch die Großmutter sagte, es ginge nicht um Bildhauerei, eine Bildhauerarbeit sei etwas völlig anderes.
    Nun sammelten sie gemeinsam am Ufer Knochen. Suchen und sammeln ist eine Sache für sich, man kann dabei gar nichts anderes sehen als das, was man sucht. Wenn man Preiselbeeren sammelt, sieht man nur alles, was rot ist, und wenn man Knochen sammelt, sieht man nur Weißes, wohin man auch geht, sieht man nur Knochen! Manchmal sind sie haarfein, so dünn und zerbrechlich, daß sie mit größter Vorsicht getragen werden müssen. Manchmal sind es riesige Schenkelknochen oder ein ganzer Käfig von Rippen, im Sand vergraben wie die Spanten eines Wracks. Sie haben Tausende von Formen, und jeder hat seine eigene Struktur. Sophia und die Großmutter legten alles, was sie fanden, in den Gespensterwald, meistens gingen sie hin, wenn es dämmerte. Sie dekorierten den Boden unter den Bäumen mit weißen Arabesken wie mit einer Geheimsprache, und wenn das Bildmuster fertig war, blieben sie sitzen, plauderten und lauschten den Flügelschlägen der Vögel im Dickicht.
    Einmal flog ein Birkhuhn auf, ein anderes Mal sahen sie eine
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