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Solaris

Solaris

Titel: Solaris
Autoren: Stanislaw Lem
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Wahrheiten dieses Ozeans? Vielleicht seine Kunstwerke? Wer konnte das wissen, wenn sich doch zweimal die gleiche Reaktion auf irgendeinen Reiz nicht erzielen ließ? Wenn einmal ein Ausbruch von Impulsen die Antwort war, die fast die Apparate sprengten, und ein andermal totes Schweigen? Wenn sich kein Experiment wiederholen ließ? Fortwährend schienen wir dicht vor dem Entziffern dieses unaufhörlich anwachsenden Meeres von Aufzeichnungen zu stehen; eigens zu diesem Zweck waren ja Elektronengehirne mit so hoher Informationswandlerleistung gebaut worden, wie bislang kein Problem sie erfordert hatte. Wirklich erhielt man gewisse Resultate. Der Ozean, die Quelle elektrischer, magnetischer und gravitativer, Impulse, schien sich in der Sprache der Mathematik zu äußern; gewisse Sequenzen seiner Stromentladungen ließen sich klassifizieren, wenn man sich der abstraktesten Zweige der irdischen Analysis und Mengenlehre bediente; es erschienen Entsprechungen zu Strukturen, wie sie aus demjenigen Teilgebiet der Physik bekannt sind, das die Stellung von Materie und Energie zueinander, von endlichen und unendlichen Größen, von Teilchen und Feldern erörtert. Dies alles ließ die Wissenschaftler zu der Überzeugung neigen, ein denkendes Monstrum vor sich zu haben, etwas wie ein millionenfach auseinandergewuchertes, den ganzen Planeten umfangendes protoplasmatisches HirnMeer, das die Zeit hinbringt mit gespenstisch ausgedehnten theoretischen Betrachtungen über das Wesen des Alls; all das aber, was unsere Apparate herausgreifen, das sind kleine, zufällig aufgeschnappte Bruchstücke dieses ewig in den Tiefen abrollenden, jegliche Möglichkeit unseres Begreifens überschreitenden gigantischen Monologs.
    Soweit die Mathematiker. Solche Hypothesen wurden von manchen als ein Ausdruck der Geringschätzung menschlicher Möglichkeiten bezeichnet, als Kapitulation vor etwas, was wir noch nicht verstehen, was aber verstanden werden kann als Versuch, die alte Doktrin aus dem Grab hervorzuholen: »ignoramus et ignorabimus«. Andere wiederum meinten, das sei schädliches und unergiebiges Gefasel, in diesen Hypothesen der Mathematiker äußere sich die Mythologie unserer Zeit, der ein riesiges Gehirn - ob elektronisch oder plasmatisch, gleichviel - als höchstes Ziel der Existenz erscheine, als Inbegriff des Seins.
    Wieder andere … aber es gab ja Legionen von Forschern und Ansichten. Im übrigen, was war schon diese ganze um »Kontaktanknüpfung« bemühte Fachrichtung gegen andere Zweige der Solaristik, in denen insbesondere während des letzten Vierteljahrhunderts die Spezialisierung so vorangeschritten war, daß unter den Solaristen der Kybernetiker sich kaum mit dem Symmetriadologen verständigen konnte. »Wie könnt ihr euch mit dem Ozean verständigen, wenn ihr es nicht einmal mehr untereinander fertigbringt?« - fragte im Scherz einmal Veubeke, der damals in meiner Studienzeit Direktor des Instituts war; an diesem Scherz war viel Wahres.
    Auch war ja der Ozean nicht von ungefähr in die Klasse Metamorpha eingereiht worden. Seine wellige Oberfläche konnte die unterschiedlichsten, mit nichts Irdischem vergleichbaren Formen aus sich hervorbringen; die Zweckbestimmtheit dieser oft heftigen Eruptionen plasmatischen »Schaffens« - ob zur Anpassung, zur Erkenntnis oder zu irgend etwas sonst - war völlig rätselhaft.
    Ich stellte den Band ins Regal zurück, so schwer war er, daß ich ihn mit beiden Händen festhalten mußte, und ich dachte: unser Wissen über die Solaris, das Bibliotheken füllt, ist unnützer Ballast, ein bodenloser Sumpf von Fakten, und wir sind auf dem gleichen Fleck, wo man es vor achtundsiebzig Jahren anzuhäufen begonnen hat, eigentlich ist die Situation jetzt viel schlimmer, weil sich alle Anstrengungen dieser Jahre als vergeblich erwiesen haben.
    Was wir genau wußten, das waren lauter Verneinungen. Der Ozean verwendete keine Maschinen und baute keine, obwohl es unter bestimmten Umständen so aussah, als sei er dazu fähig, er vervielfältigte nämlich Teile mancher in ihn eingetauchter Apparate, aber das tat er nur im ersten und zweiten Jahr der Forschungsarbeiten; danach ignorierte er alle diese mit benediktinischer Geduld immer wieder aufgenommenen Versuche, als hätte er an unseren Vorrichtungen und Produkten (und, wie daraus folgen würde, auch an uns…) jegliches Interesse verloren. Auch besaß er - ich setze die Liste unserer »negativen Kenntnisse« fort - weder irgendein Nervensystem, noch Zellen, noch
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