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Solange du schläfst

Solange du schläfst

Titel: Solange du schläfst
Autoren: Antje Szillat
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Moment gab ich mich der Illusion hin, es wäre nichts passiert. Die Tür öffnete sich und Jérôme kam herein. Lächelnd setzte er sich neben mich, beugte sich zu mir hinunter, strich mir sanft eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste mich zärtlich auf die Wange.
    Aber ich konnte die schmerzliche Gegenwart nicht lange ausblenden. Ich warf die Bettdecke zur Seite und sprang auf.
    In meinem Kopf pochte es noch ein bisschen, als ich mich nach meinen Klamotten bückte, die ich gestern Abend einfach auf den Fußboden geworfen hatte. Langsam zog ich mich an, nahm meinen Kulturbeutel vom Regal und ging ins Badezimmer hinüber, das direkt neben Jérômes Zimmer lag.
    Ich atmete tief durch und spritzte mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Die dunklen Ringe unter meinen Augen wollten dennoch nicht verschwinden.
    Seufzend wühlte ich nach der Zahnbürste, doch anscheinend hatte ich vergessen, sie einzustecken.
    Ausgerechnet die Zahnbürste, schoss es mir durch den Kopf. Ich konnte doch nicht mit Mundgeruch zu Jérôme ins Krankenhaus gehen.
    Im nächsten Augenblick kam mir der Gedanke völlig idiotisch vor.
    »Wenn du sonst keine Probleme hast, Anna«, murmelte ich meinem Spiegelbild zu. Dann drückte ich mir ein bisschen Zahnpasta auf den Zeigefinger und putzte mir damit notdürftig die Zähne. Als ich den Wasserhahn wieder zudrehte, betrachtete ich mich für eine Weile im Spiegel.
    Ich war dünn geworden. Viel zu dünn. Wenn Jérôme mich so sehen würde …, dachte ich.
    Als ich zurück in Jérômes Zimmer kam, nahm ich sein graues Sweatshirt von der Lehne und presste mein Gesicht in den weichen Stoff. Es roch noch ein wenig nach ihm und ich sog seinen Duft ganz tief ein. Dann zog ich es kurzerhand über. Ich setzte mich aufs Bett und schaute mich im Zimmer um. Viele persönliche Dinge von Jérôme befanden sich hier nicht. Ein paar Klamotten, sein PC, die Schultasche, ein Poster. Nur seine Bücher hatte er überall im Raum verteilt, stellte ich fest und schmunzelte.
    Ich seufzte, nahm den iPod von der Kommode neben dem Bett und steckte mir die Kopfhörer in die Ohren. Als die ersten Töne von Jan Delays Lied Hoffnung erklangen, konnte ich die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.
    Ich wischte sie mit dem Ärmel ab und stand langsam vom Bett auf. Jérômes iPod fest in der Hand, ging ich zur Tür. Bevor ich sie hinter mir zuzog, drehte ich mich noch einmal um und flüsterte: »Ich gebe nicht auf, Jérôme. Niemals. Und du auch nicht, hörst du?«
    Die alten Holzstufen knarrten bei jedem Schritt.
    Unten im Flur lief ich Jérômes Tante direkt in die Arme.
    »Ach, Anna.« Ein Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht. Ihre Wangen waren eingefallen, tiefe Schatten lagen unter ihren Augen. Das mahagonifarbene Haar war am Ansatz gut drei Zentimeter grau nachgewachsen und fiel ihr strähnig ins Gesicht. Ich wunderte mich, dass die Sorge um Jérôme ihr anscheinend so zusetzte, denn eigentlich hatten sie kein sonderlich inniges Verhältnis zueinander.
    »Meine Schwester ist kurz etwas besorgen«, erklärte sie leise.
    »Was?«, fragte ich verwundert. »Wir wollten doch zusammen ins Krankenhaus!«
    Ella zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich sollte dir das nur ausrichten«, murmelte sie. »Hast du Hunger?«
    »Nein danke«, sagte ich. »Hat sie denn nicht gesagt, wo sie hin ist? Oder hat etwa das Krankenhaus für sie angerufen?«
    Ella schüttelte wortlos den Kopf und schlurfte dann Richtung Küche.
    Ich blickte ihr einen Moment nachdenklich hinterher, als ich plötzlich Stimmen aus dem Wohnzimmer vernahm. Eine davon gehörte Jérômes Onkel, bei der anderen war ich mir nicht ganz sicher.
    Ich bekam nur Bruchstücke des Gesprächs mit. Jérômes Onkel schien sich für irgendetwas zu rechtfertigen.
    »Sieh zu, dass du das in Ordnung bringst, sonst …«, drohte ihm der andere. Was Jérômes Onkel darauf erwiderte, war nicht zu verstehen.
    Auf Zehenspitzen schlich ich zur Wohnzimmertür. Sie war nur angelehnt, ich linste durch den Schlitz, konnte aber nichts erkennen. Vorsichtig schob ich sie ein kleines Stückchen weiter auf. Im gleichen Augenblick hörte ich Schritte hinter mir und fuhr erschrocken herum. Ella war aus der Küche gekommen und schaute mich erstaunt an.
    »Was machst du da?«, fragte sie misstrauisch.
    »Ich, ähm … ich wollte mich nur von Ihrem Mann verabschieden«, stammelte ich und stieß die Wohnzimmertür auf. Sekunden später wurde ich unsanft zur Seite geschubst.
    Michael Krause
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