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Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Slow Travel: Die Kunst Des Reisens

Titel: Slow Travel: Die Kunst Des Reisens
Autoren: Dan Kieran
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die Gelegenheit ergäbe.
    Sie brachte nicht nur Geschenke mit, sondern auch Postkarten, Speisekarten aus dem Flugzeug, Museumsprospekte und alles mögliche andere, was sie während ihres Aufenthalts benutzt hatte und von dem sie dachte, dass es zwei kleine Jungen erfreuen konnte. Ich erinnere mich daran, dass mich die fremdartigen Papierschnipsel noch mehr faszinierten als die Geschenke selbst – ägyptische Busfahrscheine, chinesische Prospekte aus Hongkong, Restaurantrechnungen aus der Karibik –, aber meistens setzten Gareth und ich uns nur hin und hörten ihr zu, wenn sie uns Geschichten von all diesen fernen Orten erzählte. Wir bewunderten sie und hingen an ihren Lippen, besonders wenn sie uns mit Chips versorgte und im Wohnzimmer das Licht ausmachte, um uns die Dias von ihrer letzten Expedition zu zeigen.
    Als ich ein Teenager war, nahm sie mich mit auf ihre Wallace-Arnold-Busreisen durch Europa, und einmal fuhren wir nach Irland, um den Geburtsort meines Großvaters zu besuchen, den ich nie kennengelernt hatte. Gewöhnlich war ich der Jüngste im Bus, alle anderen waren etwa 50 Jahre älter als ich, und ich wirke etwas deplatziert auf den Fotos, auf denen alle am letzten Morgen der Reise vor dem Bus posieren, doch diese Erinnerungen sind mir heute lieb und teuer. Während wir stundenlang nebeneinandersaßen und durch Europa fuhren, erzählte sie mir von ihren vielen Erlebnissen, und ich war stolz, dass ich sie begleiten durfte. Sie hatte eine besondere Vorliebe für den Machu Picchu in Peru, den sie mit über 70 Jahren bestieg, nachdem sie den Río Urubamba in einem Kanu hinuntergefahren war. Sie erzählte mir, der Reiseführer habe ihr Kokablätter zum Kauen gegeben, damit sie nicht höhenkrank wurde, und sie seien so erfrischend gewesen, dass sie einige davon mitgebracht habe. Ich war entsetzt und sagte ihr, dass man aus den Blättern Kokain herstellen könne und sie hätte verhaftet werden können. Sie tätscheltemein Knie und sagte: »Du weißt doch, ich war 30 Jahre lang Krankenschwester.« Dann blickte sie aus dem Fenster und fügte lässig hinzu: »Zollbeamte durchsuchen sowieso nie die Taschen von tatterigen alten Damen.«

    Auf einem dieser Ausflüge begriff ich zum ersten Mal, was das Reisen alles auslösen kann, wenn man die konventionelleren Urlaube mit ihrer einschläfernden Wirkung links liegen lässt. Rita sprach nicht nur von ihren Reisen, während wir in allen möglichen Fähren, Zügen und Bussen saßen, sie fing an, mir mehr über ihr Leben und ihre Zeit als Krankenschwester zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zu erzählen. Außerdem hatte sie während der 1970er und 80er Jahre einen Nebenjob als Chauffeurin für zwei ihrer Freunde, die die Golfplätze und Rennbahnen in ganz England abklapperten. Sie besaßen einen riesengroßen Rolls-Royce, und meine Großmutter, die kaum über das riesige Lenkrad hinwegschauen konnte, fuhr sie überallhin, und abends fand sie sich beim Essen in glamourösen Hotels neben berühmten Jockeys und Golfern wieder.
    Es ist schwer zu beschreiben, welchen Eindruck es auf mich als Kind machte, eine kleine alte Oma zu haben, die nichts dabei fand, solche Dinge zu unternehmen, obgleich ich mir gerne einrede, dass etwas von ihr sich in meiner scheinbar exzentrischen Haltung dem Leben und dem Reisen gegenüber wiederfindet. Sie sagte, ich erinnere sie an meinen Großvater, aber eigentlich wollte ich am liebsten so sein wie sie. Im Geist kann ich ihr heiteres Geplauder noch immer hören, und immer wenn ich unterwegs bin, in jedem Bus, in jedem Zug und auf jeder Fähre, schenke ich dem leeren Sitz neben mir ein Lächeln …

Epilog
    Ich beendete dieses Buch an einem Montagmorgen und trabte mit einem Gefühl der Erschöpfung und der Erleichterung nach unten. Olive stand im Wohnzimmer am Fuß der Treppe und begrüßte mich. Während ich dieses Buch geschrieben habe, hat sie angefangen, sehr viel flüssiger zu sprechen. Sie stürzte sich auf mich und umarmte meine Beine, und ich beugte mich vor, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu geben. Dann sah sie mich erwartungsvoll an und sagte: »Schuhe, Papa«, setzte sich auf den Fußboden und wackelte mit den Zehen. Ich ging um sie herum und fand ihre Stiefel schließlich unter dem Sofa. Als ich sie zugemacht hatte, stand sie auf und drehte sich zu mir um: »Losgehen, Papa.« Es war keine Frage. Sie war schon durch die Gartenpforte, bevor ich aus der Haustür trat.

Literatur
    Ackroyd, Peter, William Blake: Dichter, Maler,
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