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SISSI - Die Vampirjägerin

SISSI - Die Vampirjägerin

Titel: SISSI - Die Vampirjägerin
Autoren: Claudia Kern
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wirklich nicht klar, dass Wurfsterne so weit fliegen …« Sie dachte an den Anblick des toten Bocks. »… oder einen Schädel spalten können.«
    Prinzessin Ludovika stützte das Kinn in die Hand. Sie war eine anmutige, zierliche Frau und weit strenger als Herzog Max. »Wenn du es nicht warst, dann sollten wir dem Vater Bescheid sagen.«
    »Wieso? Wer glaubst du denn, bringt die Tiere um?«
    »Ein wilder Vampir?« Herzog Max stand am Kopfende des Esstischs und schnitt Scheiben von einem Brotlaib ab. »Von denen haben wir doch schon seit Jahren keinen mehr gesehen.«
    »Was nicht heißt, dass es sie nicht mehr gibt.« Seine Frau Ludovika nahm am anderen Ende des Tischs Platz. Zwischen ihnen saßen links Néné und Sissi, rechts die drei Buben. An diesem Abend war es Sissis Aufgabe, auf sie zu achten – was sie aßen, ob sie aßen, was sie miteinander sprachen und was ihre Blicke aussagten. Zwei von ihnen, Ludwig Wilhelm und Maximilian, schwiegen und hielten den Kopf gesenkt. Nur Karl Theodor war lebhaft. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und hielt Messer und Gabel so verkrampft in den Fäusten, als könne er das Abendessen kaum erwarten.
    »Was ist ein wilder Vampir?«, fragte er. Fantasie und Neugier blitzten in seinen Augen.
    Sissi mochte Theodor als Einzigen der Buben. Sie hoffte – und manchmal betete sie sogar –, dass sie ihn nie würde befreien müssen.
    »Wilde Vampire«, begann Sissis Vater, »sind Kreaturen, die bei Nacht wüten. Sie unterwerfen sich keinem Herrscher und keinem Recht. Man muss sie erschlagen wie räudige Hunde, sonst morden sie weiter bis ans Ende aller Tage.«
    Theodor begann mit den Beinen zu schlenkern. Der Stuhl, auf dem er saß, war viel zu hoch für ihn. »Aber wenn man sie erschlägt«, sagte er mit seiner hellen Kinderstimme, »dann stehen sie doch nur wieder auf. Pfählt man sie nicht besser oder schlägt ihnen den Kopf ab?«
    Herzog Max lächelte. »Du hast gut aufgepasst.« Kurz glitt sein Blick zu den anderen, teilnahmslos dasitzenden Buben. »Aber ich bin sicher, deine Brüder hätten das auch gewusst, nicht wahr?«
    Einen Moment lang herrschte erwartungsvolle Stille am Tisch. Sissi tastete nach dem kleinen Holzpflock, den sie stets in einer Lederschlaufe am Oberschenkel trug.
    »Ja, Vater«, antworteten die beiden Buben schließlich.
    Sissi legte ihre Hand wieder auf den Tisch. Sie spürte, wie die Spannung, die sich so plötzlich in dem großen Esszimmer aufgebaut hatte, verflog.
    Ihr Vater lächelte. »Dann waren die Lehrstunden ja nicht vergebens«, sagte er, bevor er das fertig geschnittene Brot in einen Korb legte und in die Mitte des Tischs stellte. Nacheinander griffen alle zu, die Buben als Letzte. Theodor schaufelte mit einem großen Löffel Fleischsalat auf seinen Teller. Er wollte gerade Butter auf seine Brotscheibe schmieren, als Prinzessin Ludovika ihn aufhielt.
    »Hast du nicht etwas vergessen, Theodor?«, fragte sie.
    Er hielt inne und nickte. »Verzeih, Mutter. Ich war ungeduldig.«
    »Dann hoffe ich, dass dein Gedächtnis ausgeprägter ist als deine Geduld. Du hast heute Abend die Ehre, das Tischgebet zu sprechen.«
    Aus den Augenwinkeln sah Sissi die Erleichterung auf Nénés Gesicht, die sie selbst verspürte. Rasch ergriff sie die Hand ihrer Schwester und die ihrer Mutter. Herzog Max und die Buben schlossen den Kreis.
    Theodor schluckte, räusperte sich, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
    »Du musst keine Angst haben«, sagte Sissi. »Wir alle wissen, wie schwer das ist.«
    Er sah sie an, schluckte und setzte erneut an. Zögernd begann er zu sprechen. Es waren seltsame, fremde Laute, die aus seiner Kehle und aus dem Dunkel der Zeit emporstiegen. Sissi schloss die Augen und lauschte ihnen. Sie liebte es, sie zu hören, und hasste es, sie auszusprechen. Das Gebet, wenn es denn eines war, erfüllte sie mit Hoffnung und Zuversicht und schien etwas in ihr zu wecken, was sonst verborgen blieb. Es schenkte ihr Ruhe und die Gewissheit, dass Tausende vor ihr ihm gelauscht hatten – in Hütten und Burgen, in Zelten und Palästen, auf Schlachtfeldern und im Angesicht unvorstellbar grausamer Macht. Doch es existierte immer noch, war weitergereicht worden über Generationen, von Vätern an Söhne, von Müttern an Töchter. Das Böse hatte ihm nichts anhaben können.
    Bis vor Kurzem hatte man geglaubt, es stamme aus dem alten Ägypten, doch die Gelehrten unter ihnen, die sich mit dem Gebet beschäftigten, zweifelten mittlerweile daran, hielten es für
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