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Sintflut (German Edition)

Sintflut (German Edition)

Titel: Sintflut (German Edition)
Autoren: Gina Schulze
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Erbsengefühl, weil mein Magen sich erbsenklein anfühlt und nichts, was größer ist, hineinpassen würde. Birgul nimmt seine Portion, aber mit seinem dicken Bauch gelingt es ihm nicht, seinen Klapptisch in die Waagrechte zu stellen. Das Tablett mit dem Essen rutscht fast zu Boden, als er es trotzdem versucht.
    »Die Sitze werden immer enger«, schimpft er. »Noch vor ein paar Jahren konnte ich ohne Probleme ein Essen zu mir nehmen, auch in der Business-Class, jetzt müsste ich bitte Ihre Hilfe in Anspruch nehmen …«
    Die Sitze sind schmaler denn je, das stimmt. Wenn man dann selbst auch noch immer dicker wird … Ist Askese eine Möglichkeit? Vielleicht ja doch hin und wieder, aber nur, damit man danach um so lustvoller schlemmen, saufen und rauchen kann. Was Gesundes gegen was Ungesundes, was Dürres gegen was Üppiges, was Korrektes gegen was Anstößiges. In den letzten Wochen hatte ich keine Zeit für die Überprüfung meiner Lebenseinstellung, in der die Idee der Askese bisher nie einen Platz hatte. Aber mit meinem neuen Erbsengefühl kann ich ganz anders an die Sache herangehen. Ich stelle Birguls Tablett auf meinen Tisch und füttere ihn.
    »So stelle ich mir das Paradies vor«, sagt er, schließt halb die Augen, lächelt friedlich, kaut und wartet, bis ihm die nächste Gabel vor dem Mund schwebt. Als er fertig ist, gebe ich das Geschirr der Stewardess zurück, die gerade vorbeikommt und mich mitleidig anschaut. Birgul bestellt Rotwein.
    »Auf Sie und auf meinen Freund Hans Dietzendorf«, prostet er mir zu.
    »Wie kommen Sie jetzt auf ihn?« Birgul erklärt, er denke oft an seinen Freund und der Fall sei mittlerweile aufgeklärt. Es war ein Totschlag im Affekt. Dietzendorf hatte etwas mit einem rumänischen Mädchen angefangen. Ihr Vater war der Ansicht, dass nun auch geheiratet werden müsse, zumal die Kleine ein Kind erwartete. Dietzendorf weigerte sich. Daraufhin verprügelte der Vater ihn so brutal, dass er nicht mehr aufstand. Um alles zu vertuschen, brachte man das Opfer in den Wald, wo es seinen inneren Verletzungen erlag und später tot aufgefunden wurde.
    »Ich muss Ihnen etwas gestehen«, erkläre ich nach einem weiteren Schluck Rotwein.
    »Dabei war ich gerade so zufrieden wie lange nicht«, seufzt Birgul.
    »Ich bin nicht Paula Petrus.«
    »Ach nein?«, antwortet Birgul, als er das verdaut hat. »Ich kann noch nicht sagen, ob mir das gefällt. Schließlich wären Sie dann eine Fremde für mich.«
    »Ich heiße Marlene Adler, Ex-Polizistin und Hausfrau. Meine Schwester und ich sehen uns recht ähnlich und Paula hatte mich gebeten, herzukommen und vorübergehend ihren Platz einzunehmen.«
    Birgul fängt an zu lachen und kann sich gar nicht mehr einkriegen. Als er sich schließlich beruhigt hat, schlägt er sich auf seine dicken Schenkel und platzt heraus: »Und wir Idioten sind die ganze Zeit hinter Ihnen hergelaufen, während Ihre Schwester in aller Ruhe … wie raffiniert. So ist das also, wenn Frauen ihre kriminelle Energie einsetzen. Jetzt weiß ich, warum wir Männer euch unterdrücken. Reiner Selbstschutz, wie ich sehe.«
    »Sie und ich haben uns so gut vertragen. Und ich musste Sie belügen. Bitte nehmen Sie mein Geschenk an. Vorhin wollten Sie nicht. Aber da war ich für Sie noch eine ehrliche Archäologin. Jetzt sprechen Sie mit einer betrügerischen Ex-Polizistin, die etwas gutzumachen hat.«
    Ich nehme den in altes Zeitungspapier gewickelten Freund des Denkers aus der Plastiktüte. Vorhin beim Zoll, als ich meinen Krempel zusammenpackte, habe ich ihn zuletzt eingepackt, er liegt ganz obenauf. Birgul hält das Papierbündel nachdenklich in der Hand. Dann sagt er verlegen: »Was mag da drin sein? Ich fühle mich wie ein etwas zu dickes Mädchen, dem man einen Heiratsantrag machen will.«
    »Ich bin schon verheiratet«, erkläre ich schnell. Und zwar glücklich, hätte ich früher dazugesetzt.
    »Wie bedauerlich. Auch meine Köchin aus Tirpesti ist es. Ihr Mann fährt zur See und sie wartet den besseren Teil des Jahres darauf, dass er nach Hause kommt.«
    »So hat sie Ihnen also einen Korb gegeben?«, frage ich belustigt.
    »Aber nein«, erwidert er, als wäre es völlig undenkbar, dass eine Frau ihn nicht würde heiraten wollen. »Ich habe ihr einen Korb gegeben. Sie war einfach zu schnell bereit, ihren Mann zu verlassen und mit mir handelseinig zu werden. Da war nicht der Schimmer eines Zögerns, wenigstens der Pietät halber. Bei soviel Kaltblütigkeit ist mir der Appetit vergangen.
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