Sine Culpa
rauszuholen. Ich schaffte es gerade noch, die Heckklappe wieder zuzuschlagen, als er den Rückwärtsgang einlegte. Fast wäre ich überrollt worden. Dann fuhr ich los. Ich schaute mich nicht mehr um, sondern trat nur noch wie verrückt in die Pedalen.«
»Wo sind Sie hin?«
»Wie sich herausstellte, war ich auf einem schmalen Weg, der parallel zur A23 verlief. Bald konnte ich nicht mehr, weil ich noch zu starke Schmerzen hatte, also hab ich das Rad irgendwann geschoben. Es war schon dunkel, als ich mich in einer Scheune versteckt habe und eingeschlafen bin. Als ich aufwachte, war es fast hell, und ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte einen Mann niedergestochen und war weggelaufen. Ich konnte unmöglich nach Hause.«
»Aber Sie wussten doch bestimmt, dass Ihre Eltern Ihnen verzeihen würden. Sie liebten Sie, und das mit dem Messer war doch im Grunde Notwehr. Ich glaube kaum, dass irgendein Gericht dieses Landes Sie verurteilt hätte, nach dem, was Sie durchgemacht hatten.«
»Mag sein, aber so denkt man nicht, wenn man ein verängstigtes Kind mit einem schmutzigen Geheimnis ist. Ich hätte es nicht ertragen, wenn das alles … herausgekommen wäre. Meine Leben wäre ruiniert gewesen. Andrew, Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr Selbsthass das Vertrauen eines Kindes zerstört. Ich war sicher, dass ich schuldig wie Kain war und für alle Zeit verachtet werden würde. Ich beschloss, weiterzufliehen. Außer ein paar Schulbüchern hatte ich Schokolade in meiner Tasche, die zwanzig Pfund und die Kamera, die meine Eltern mir zum Geburtstag geschenkt hatten.
Ich hielt mich weiter nur auf Waldwegen und bin auch keiner Menschenseele begegnet, obwohl ich einmal Stimmen rufen hörte. Als ich zu Olivers Farm kam, erkannte ich, wo ich war. Ich wartete, bis Mrs. Anchor aus dem Haus ging. Ich wusste, dass die Hintertür nie abgeschlossen war, deshalb musste ich nicht mal einbrechen. Ich füllte einen Beutel mit Lebensmitteln und nahm das Geld, das sie über dem Herd aufbewahrte.
Inzwischen hatte ich mich wieder etwas beruhigt und bin ins Badezimmer, um mich frisch zu machen. Ich fand so ein Färbeshampoo, eine blonde Tönung, und das nahm ich für später mit, außerdem Seife und eine Zahnbürste.«
»Und dann?«
»Bin ich Richtung Norden gefahren. Ich hatte noch immer ziemlich schlimme Schmerzen, deshalb schaffte ich jede Nacht immer nur ein kleines Stück. In einem Wald irgendwo in den North Downs stieß ich auf einen Wohnwagen. Ich brauchte einen Unterschlupf, also bin ich eingebrochen. Während ich drin war, kam ein alter Mann. Der Wohnwagen gehörte ihm. Ich dachte, er würde mich beschimpfen und die Polizei holen, aber das tat er nicht. Er war nicht ganz richtig im Kopf und einsam, glaube ich. Jim – so hieß er – bestand darauf, mir seine ›Spezialität‹, wie er es nannte, zu machen: Frankfurter Würstchen aus der Dose, gebraten mit Dosenmais. Ich war so ausgehungert, dass ich alles verputzte. Er fühlte sich komischerweise geschmeichelt, und er bat mich zu bleiben.
Er hatte keine Hintergedanken, wollte nur ein wenig Gesellschaft und Anerkennung. Es war so wohltuend. Es gab keinen Fernseher, bloß ein altes Radio. Ich hab die meiste Zeit geschlafen. Aber am dritten Tag wurde Jim krank. Ich glaube, die Grippe, und es hatte ihn ganz übel erwischt. Ich konnte ihn nicht allein lassen, wo er so freundlich zu mir gewesen war, also blieb ich und pflegte ihn, sorgte dafür, dass er viel trank und ab und zu was aß.
Er hatte Unmengen von Lebensmitteln in dem Wohnwagen. Wahrscheinlich kaufte er immer Riesenmengen ein, aber er ernährte sich anscheinend fast ausschließlich von Dosenmais. Ich kann das Zeug bis heute nicht mehr sehen. Gegen Ende der Woche war er wieder so weit auf dem Damm, dass er aufstehen und ein bisschen herumwerkeln konnte. Am Samstag – das muss zwölf Tage nach meiner Flucht gewesen sein – fuhr er in den nächsten Ort. Es war Markttag, und er wollte uns etwas besonders Gutes kaufen, sagte er. Er kam mit einer Zeitung zurück.« Paul stockte. Tränen traten ihm in die Augen. »›Mein Junge, bist du das, über den die da schreiben?‹, fragte er mich. Ich konnte nur nicken. Ich schämte mich so. Er hatte mich richtig ins Herz geschlossen, verstehen Sie, und dann musste er das alles über mich lesen, die schrecklichen Dinge, die sie über mich schrieben.
Ich brach in Tränen aus, und er tröstete mich. Dann sagte er, ich solle mich waschen. Er hatte mir auf
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