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Sherlock Holmes und die Theatermorde

Sherlock Holmes und die Theatermorde

Titel: Sherlock Holmes und die Theatermorde
Autoren: Nicholas Meyer
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Watson, sehen Sie nur«, hub er an, ließ sich dann aber ganz auf den Boden sinken, das Buch in der einen Hand, während er mit der anderen abwesend nach der Pfeife in der Tasche seines Morgenrocks fühlte.
    Er verschlang das Buch zusammen mit mehreren Pfeifen Shag (beinahe so übelriechend wie einige seiner Chemikalien) und ging zu einem anderen Band über. Er hatte begonnen, sich für altenglische Charten zu interessieren, und bereitete sich nun auf ein ernsthaftes Studium des Themas vor. Diese Betätigung überraschte mich nicht besonders. Ich wußte, daß sein Interessengebiet weitreichend, vielseitig und gelegentlich etwas unkonventionell war. Er hatte eine Reihe obskurer Themengebiete gemeistert – Themengebiete, die mit der Arbeit des Kriminaldetektivs nichts zu tun hatten – und konnte sich (wenn er wollte) brillant über so verschiedenartige Dinge auslassen wie das Kriegsschiff der Zukunft, künstliche Bewässerung, die Motetten von Lassus und die Paarungsgewohnheiten des südamerikanischen Jaguars.
    Jetzt waren es englische Charten, denen er sich mit derselben Leidenschaft widmete, mit der er seinen enormen Intellekt bei anderen Betätigungen einsetzte. Er hatte sich offenbar schon vor einiger Zeit für sie erwärmt, denn die meisten der Bücher, die er angeschafft (und dann zu öffnen versäumt) hatte, behandelten diese ausgefallene Thematik, und nach Ablauf einer Woche war der Boden unseres Wohnzimmers mit ihnen geradezu gepflastert. Schließlich befand er sämtliche vorhandenen Werke als unzureichend für seine Zwecke und sah sich gezwungen, sich seinen Weg durch den Schnee ins Britische Museum zu bahnen, um Verstärkung herbeizuholen. Diese Beutezüge nahmen mehrere Nachmittage der letzten Februarwoche in Anspruch; die Nächte verbrachte er mit der sorgfältigen Übertragung seiner Notizen. Es war an einem kalten, sonnigen Morgen, dem 1. März, als er voller Widerwillen seinen Bleistift quer durchs Zimmer warf.
    »Es hat keinen Sinn, Watson«, sagte er, »ich werde nach Cambridge fahren müssen, wenn ich mich mit dieser Sache ernsthaft befassen will. Hier gibt es einfach nicht genug Material.«
    Ich gab zu bedenken, daß sein Interesse sich in eine Manie zu entfalten drohe, aber er schien mich nicht zu hören. Er begab sich auf die Jagd nach dem zu Boden geschleuderten Stift, um die Arbeit an den Notizen wieder aufzunehmen. Dabei verkündete er mit einer didaktischen Formalität, die in einem sonderbaren Kontrast dazu stand, daß er sich auf allen vieren befand: »Der Geist ist ein weites Feld, Watson. Es kann nur urbar gemacht werden, wenn es mit Vernunft bestellt und von Zeit zu Zeit brach gelassen wird. Ein Teil meines Geistes – der berufliche – macht zur Zeit Ferien. Während seiner Abwesenheit kultiviere ich einen anderen seiner Bereiche.«
    »Was für ein Jammer, daß Ihr beruflicher Geist gerade außer Haus ist«, bemerkte ich, während ich durchs Fenster die Straße beobachtete.
    Er folgte meinem Blick vom Boden aus. »Warum? Was sehen Sie?«
    »Mir scheint, daß uns ein Besucher ins Haus steht, jemand, der sich für das Feld Ihres Intellekts interessiert, das zur Zeit brachliegt.« Draußen war – zwischen den Spaten der Schneeschaufler und dem Besen des Hausmädchens behende herankommend oder vielmehr heranhüpfend – eine der eigenartigsten Gestalten zu sehen, die mir je vor Augen gekommen waren.
    »Er sieht mir ganz nach einem geeigneten Kandidaten für einen Besuch in Nummer zweihunderteinundzwanzig b aus«, fuhr ich fort, in der Hoffnung, meinen Freund von den Büchern abzulenken, die ihn so enttäuschten.
    »Ich bin nicht in der Stimmung, Besucher zu empfangen«, erwiderte Holmes mißgelaunt und stieß die Fäuste in die Schlafrocktaschen. »Wie sieht er aus?« Die Frage kam automatisch über seine Lippen.
    »Zunächst einmal trägt er keinen Mantel. Er muß von Sinnen sein, an einem solchen Morgen.«
    »Kleidung?«
    »Eine Gürteljacke und Knickerbocker – bei diesem Wetter! Sie sehen sogar auf diese Entfernung ziemlich abgetragen aus. Er rückt sich ständig die Manschetten zurecht.«
    »Wahrscheinlich falsche. Alter?«
    »Etwa vierzig, mit einem enormen, etwas rötlichen Bart – dieselbe Farbe wie sein Haar –, der ihm beim Gehen über die Schulter weht.«
    »Größe?« Ich konnte hören, wie hinter mir ein Streichholz angezündet wurde.
    »Ich würde sagen, eher groß, über Durchschnitt.«
    »Gangart?«
    Ich ließ mir Zeit, um den hüpfenden, springenden Gang des
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