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Selbs Justiz

Selbs Justiz

Titel: Selbs Justiz
Autoren: Schlink
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PR -Abteilung, wo sie Firners Aufmerksamkeit erregt hatte. Sie wohnte in der Rathenaustraße.
    »Bleiben Sie doch bitte sitzen«, sagte ich. Sie hörte auf, unter dem Schreibtisch mit den Füßen nach den Schuhen zu suchen, und bot mir einen Kaffee an. »Gerne, dann können wir auf gute Nachbarschaft trinken. Ich habe Ihre Personalakte gelesen und weiß jetzt fast alles über Sie, außer, wieviel Seidenblusen Sie besitzen.« Sie hatte wieder eine an, diesmal hochgeschlossen.
    »Falls Sie am Samstag zum Empfang kommen, sehen Sie die dritte. Haben Sie schon Ihre Einladung?« Sie schob mir eine Tasse hin und zündete eine Zigarette an.
    »Was für ein Empfang?« Ich schielte nach ihren Beinen.
    »Wir haben seit Montag eine Delegation aus China hier, und zum Abschluß wollen wir zeigen, daß nicht nur unsere Anlagen, sondern auch unsere Büfetts besser sind als bei den Franzosen. Firner meinte, Sie könnten bei der Gelegenheit zwanglos ein paar für Ihren Fall interessante Leute kennenlernen.«
    »Werde ich auch Sie zwanglos kennenlernen können?«
    Sie lachte. »Ich bin für die Chinesen da. Aber es gibt da eine Chinesin, bei der ich noch nicht verstanden habe, wofür sie zuständig ist. Vielleicht ist sie die Sicherheitsexpertin, die stellt man nicht vor, also eine Art Kollegin von Ihnen. Eine hübsche Frau.«
    »Sie wollen mich abwimmeln, Frau Buchendorff! Ich werde mich bei Firner beschweren.« Kaum hatte ich es gesagt, tat es mir auch schon leid. Abgestandener Altherrencharme.

7
Kleine Panne
    Am nächsten Tag stand die Luft über Mannheim und Ludwigshafen. Es war so schwül, daß mir ohne jede Bewegung die Kleider am Leib klebten. Die Fahrerei war stockend und hektisch, ich hätte für Kuppeln, Bremsen und Gasgeben drei Füße brauchen können. Auf der Konrad-Adenauer-Brücke war alles aus. Es hatte einen Auffahrunfall gegeben und nach dem einen gleich den nächsten. Ich stand zwanzig Minuten im Stau, sah dem Gegenverkehr und den Zügen zu und rauchte, um nicht zu ersticken.
    Der Termin mit Schneider war um halb zehn. Der Pförtner am Tor 1 erklärte mir den Weg. »Das sind keine fünf Minuten. Gehen Sie geradeaus, und wenn Sie an den Rhein kommen, noch mal hundert Meter links. Die Labors sind in dem hellen Gebäude mit den großen Fenstern.«
    Ich machte mich auf den Weg. Unten am Rhein sah ich den kleinen Jungen, der mir gestern begegnet war. Er hatte eine Schnur an sein Sandeimerchen gebunden und schöpfte damit Wasser aus dem Rhein. Das Wasser schüttete er in den Gully.
    »Ich mache den Rhein leer«, rief er, als er mich sah und erkannte.
    »Hoffentlich klappt’s.«
    »Was machst du hier?«
    »Ich muß da vorne ins Labor.«
    »Darf ich mit?«
    Er schüttete sein Eimerchen aus und kam. Kinder machen sich oft an mich ran, ich weiß nicht, warum. Ich habe keine, und die meisten nerven mich.
    »Komm schon«, sagte ich, und wir gingen zusammen auf das Haus mit den großen Fenstern zu.
    Wir waren ungefähr fünfzig Meter entfernt, als aus dem Eingang ein paar Weißgewandete hasteten. Sie rannten das Rheinufer runter. Dann kamen mehr, nicht nur im weißen Kittel, sondern auch im Blaumann, und die Sekretärinnen in Rock und Bluse. Es war putzig anzuschauen, und ich verstand nicht, wie man bei dieser Schwüle rennen konnte.
    »Guck mal, der winkt uns«, sagte der kleine Junge, und in der Tat, einer von den Weißkitteln fuchtelte mit den Armen und rief uns etwas zu, was ich nicht verstand. Aber ich mußte auch nicht mehr verstehen; offensichtlich galt es, sich so schnell wie möglich davonzumachen.
    Die erste Explosion schüttete eine Kaskade von Glassplittern über die Straße. Ich griff nach der Hand des kleinen Jungen, aber der riß sich los. Einen Moment war ich wie gelähmt: Ich spürte keine Verletzung, hörte trotz des weiterklirrenden Glases eine große Stille, sah den Jungen rennen, auf den Glassplittern ausrutschen, sich noch einmal fangen, nach zwei schiefen Schritten endgültig fallen und, von seiner Bewegung vorangetrieben, sich überschlagen.
    Dann kam die zweite Explosion, der Schrei des kleinen Jungen, der Schmerz im rechten Arm. Dem Knall folgte ein gewalttätiges, gefährliches, bösartiges Zischen. Ein Geräusch, das mich in Panik versetzte.
    Den Sirenen, die in der Ferne einsetzten, verdanke ich, daß ich handeln konnte. Sie weckten die im Krieg eingeübten Reflexe des Flüchtens, Helfens, Schutzsuchens und -gebens.
    Ich rannte auf den Jungen zu, zog ihn mit meiner linken Hand hoch, zerrte ihn in
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