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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit
Autoren: Hayes Joseph
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Gegenwart zu beachten? In Gedanken auf Kommendes? Sie ahnte es nicht. Er wirkte insgesamt distanziert und in sich gekehrt, wie üblich. Was, zum Teufel, sollte man mit so einem Vater anfangen?
    Die vergangene Nacht fiel ihr ein. Es war spät geworden. Nachdem er beim Schach in seinem Arbeitszimmer – seinem Heiligtum mit Silberpokalen, Siegerschleifen, Bronzestatuen der Champions seines Blue-Ridge-Gestüts, gerahmten Fotos der preisgekrönten Zuchtstuten und Hengste und dazwischen Fotos von ihr in jedem Alter und von allen wichtigen Ereignissen – überlegen gewonnen hatte, war sie aufgestanden und steifbeinig zum Verandafenster gegangen. Im fahlen Mondlicht konnte sie die Stallungen und Koppeln und in der Ferne die Umrisse der Bergkette erkennen.
    »Hast du gehört, daß mich dein Freund, der selbsternannte Graf Wyatt, heute früh in seiner Sendung als Rennprinzessin apostrophiert hat?« Und als Andrew nicht antwortete: »Ist dir klar, daß uns die Krönung der Derby-Fest-Königin entgangen ist, nur weil wir gestern abend noch nicht in Louisville waren? Was man so hört, ist die nächste Queen vielleicht männlich …«
    Sie wandte sich um und schaute in seine ruhigen, grauen Augen unter amüsiert hochgezogenen schwarzgrauen Brauen, mit denen er sie über den Rand seines Cognacglases hinweg betrachtete. »Wyatt Slingerland ist ein dämliches Arschloch.«
    Andrews großer, schmaler Mund kräuselte sich an den Winkeln. »Als Kind konntest du eine Woche vor einem wichtigen Ereignis nie richtig schlafen. Und inzwischen hast du dir zusätzlich noch ein paar beeindruckende Vokabeln zugelegt.«
    Es störte sie, daß er sich über sie lustig machte. Trotz ihrer neunundzwanzig Jahre erregte sie sich darüber und konnte sich dennoch nicht dagegen wehren. »Bitte, Andrew, spiel nicht darauf an, daß ich die Pille nehmen soll. Das tu ich nämlich regelmäßig. Sogar während der Fastenzeit.«
    Darauf ging er nicht ein. Er stand nur auf, schlank, hochaufgerichtet, breitschultrig und sehr weit weg. »Ich dachte an schlafen, nicht an schwanger werden, Kind.« An der Bar stellte er das Glas ab und ging dann mit elastischen Schritten zur Diele. An der Tür blieb er kurz stehen. »Kimberley, von den feinen Internaten ist wenig hängen geblieben …«
    »Doch, ich, fast …«
    Er wandte sich zu ihr um. »Solltest du in den zwei Jahren deiner Studien am Bryn Mawr einmal über einen obskuren Autor namens Shakespeare gestolpert sein?«
    »Hör auf mit deiner gönnerhaften Art«, warnte sie ihn, wußte aber genau, was nun kommen würde, früher oder später.
    »Er ist mir untergekommen, aber die altertümliche Sprache ist nicht mein Bier. Aber zum Kern, auf den deine Frage wohl abzielt: Hotspur, Heißsporn hieß eigentlich Heinrich Percy, war ein Verschwörer gegen seinen König Heinrich IV. und fiel in der Schlacht von Shrewsbury im Jahr 1403.« Reichte das, oder hatte sie schon zu viel gesagt? Er runzelte leicht die Stirn, und das freute sie.
    »Das klingt wie ein Lexikontext. Du solltest wirklich Shakespeare lesen. Hotspur war ein übermütiger junger Mann, ein heißblütiger Raufbold. Er stirbt mit dem Satz ›O Heinrich, du beraubst mich meiner Jugend‹ auf den Lippen.« Andrew lächelte nicht mehr, sondern fixierte sie scharf. »Es würde mir leid tun, wenn dir jemand dies angetan haben sollte, Kimberley.«
    Sein Ton, in dem Trauer mitschwang, erstaunte sie ebenso wie die Worte. Warnte er sie? Oder war das eine Art Frage an sie? Wenn ja … sollte er sich tatsächlich Sorgen um sie machen?
    Er zog den Gürtel um die Hausjacke enger – natürlich in den Farben des Cameron-Clans – und fuhr in lockerem Ton fort:
    »Ein verdammt hochtrabender Name für ein Rennpferd, findest du nicht auch?«
    Kimberley wußte nicht, ob sie ihre Stimme unter Kontrolle haben würde, und auch nicht, was sie eigentlich davon halten oder dazu sagen sollte. »Deine alte Freundin Mrs. Stoddard hat Ancient Mariner gemeldet.«
    »Rachel Stoddard«, entgegnete er, »ist eine sehr kultivierte Dame.«
    »Es mag schockierend für dich sein, aber Clay Chalmers kennt seinen Shakespeare so gut wie du, vielleicht sogar noch besser!« Warum mußte sie das unbedingt loswerden? Aber sie konnte sich nicht bremsen. »Falls es dich beruhigt, Mr. Clay Chalmers, Trainer und Pferdebesitzer, wird sich diesmal eine andere Jungfrau in Virginia suchen müssen.« Sie fing an, ziellos herumzuwandern, und ihr Ton klang bitter. »Die kleine Cameron ist nicht mehr so leicht
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