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Seelenglanz

Seelenglanz

Titel: Seelenglanz
Autoren: Brigitte Melzer
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Flügel ausrissen und mich erneut aus dem Himmel verstießen, würde Luzifer mich früher oder später von meinem Posten abziehen und wieder zu sich berufen. Bis es jedoch so weit war, nahm ich mir vor, jeden Augenblick zu genießen, in dem meine Flügel ein Teil von mir waren.
    Ich ließ die Schultern kreisen, nach dem Tag auf der Couch knackten meine Muskeln und Gelenke vernehmlich, dann ließ ich den Schleier fallen, der meine Flügel vor den Augen anderer verborgen hielt. Es war eigentlich kein Schleier, mir fiel jedoch kein besseres Wort dafür ein, das nichts mit Magie zu tun hatte und dennoch den Umstand zu beschreiben vermochte, dass meine Flügel nicht nur unsichtbar waren, sondern auf einer anderen Daseinsebene existierten, solange ich sie nicht bewusst materialisierte. Andernfalls würden wir Engel in jeder Tür hängen bleiben.
    Kaum hatte ich den Schleier aufgelöst, spürte ich das Gewicht meiner Flügel. Um es auszugleichen, verlagerte ich meinen Körperschwerpunkt ein Stück nach vorne. Der Wind fuhr mir durch das Gefieder, ich spreizte die Schwingen, um ihn einzufangen und durch jede einzelne Feder fließen zu lassen, wie Atemluft, die durch eine Lunge strömte.
    Das war es!
    So fühlte es sich an, lebendig zu sein!
    Ich wandte den Kopf und betrachtete meine Flügel. Auf den ersten Blick wirkten sie schwarz, wenn man jedoch genauer hinsah, bemerkte man die einzelnen hellen Reflexe, die das Gefieder wie flüssiges Silber durchzogen.
    Einen Moment lang betrachtete ich die Stadt unter mir, folgte mit dem Blick der Straße, auf der sich die Bremslichter und Scheinwerfer der Autos wie eine Lichterkette entlangzogen, dann sprang ich. Ich mochte diese Momente des freien Falls, jene Sekunden, in denen mich die Schwerkraftgnadenlos nach unten zog, ehe ich meine Flügel ausbreitete und in einen sanften Gleitflug überging.
    Die Dämmerung zog langsam herauf, und während ich – für die Menschen unter mir unsichtbar – über die Straßen und Häuser hinwegglitt, ging die Straßenbeleuchtung an, als hätte ich die Laternen im Vorüberfliegen entzündet.
    Ich genoss den Wind in meinem Gefieder, liebte die kalte Luft, die über meine Wangen strich, und den Duft von Freiheit, der mir in die Nase stieg. Eine Freiheit, die ich so lange schmerzlich vermisst hatte, während mir nur die vernarbten Stümpfe und die niemals verblassende Erinnerung an meine Flügel geblieben waren.
    Einige Zeit glitt ich dahin, ließ mich vom Wind treiben, ohne Rücksicht auf Entfernungen zu nehmen. Ich streifte über Wälder, Berge und das Meer hinweg, atmete die salzige Brise ein, die mir vom Ozean in die Nase stieg, und erfreute mich daran, wie sich das Schlagen der Wellen mit dem Rauschen meiner Flügel vermischte, als würde es untrennbar zusammengehören.
    Es war schon eigenartig, wie genau man Dinge wahrnahm, wenn man so lange auf sie hatte verzichten müssen. Ich nahm jeden Flug mit all seinen Details in mich auf, als wäre es der letzte. Niemals zuvor waren mir die Wälder so grün, der Himmel so blau und die Luft so klar erschienen wie in den letzten Monaten. Davor hatte ich an den meisten Tagen die Welt um mich herum gar nicht wirklich wahrgenommen. Jetzt jedoch, wo ich meine Flügel zurückhatte und den Wind und die Freiheit wieder spüren konnte, war es, als hätte sich auch mein Blick auf die Welt verändert.
    Seattle lag schon ein ganzes Stück hinter mir, ich glitt über den Pazifik dahin an der Küste entlang, als mir bewusst wurde, dass mich meine Schwingen in die Nähe von Ruby Falls getragen hatten – dem Ort, in dem Rachel lebte.
    Unwillkürlich tastete ich nach ihrer Signatur, jenem geistigen Fingerabdruck, der so einzigartig und einprägsam war, dass wir ein Lebewesen, das wir einmal berührt hatten, immer wieder aufspüren konnten.
    Bei Rachel war es nicht ganz so einfach. Sie war eine Nephilim – halb Mensch, halb Engel –, weshalb sie imstande war, ihre Signatur abzuschirmen, wenn sie nicht gefunden werden wollte.
    Aber ich hatte Glück.
    Ihre Spur führte mich zum Haus ihrer besten Freundin Amber. Ich landete lautlos auf dem Dach und dematerialisierte meine Flügel. Ich wusste nicht einmal, warum ich meine Fühler nach Rachel ausgestreckt hatte. Sobald Ruby Falls in Sicht gekommen war, hatte ich nach ihr gesucht, ohne zu wissen, was ich hier wollte. Hallo sagen? Sie beobachten? Keine gute Idee – immerhin war sie Akashiels Freundin und er wüsste mein Interesse an ihr sicher nicht zu schätzen. Abgesehen
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