Schwimmen mit Elefanten - Roman
erklärte Miira jede noch so komplizierte Regel. Mit Händen und Füßen malte er die Spielzüge in die Luft. Niemand konnte so gut zuhören wie sie.
»Die Lieblingsfigur des Meisters ist der Bauer, auf Englisch
pawn
. So hat er auch seine Katze getauft. Die Bauern sind ihm am liebsten, obwohl sie eigentlich den geringsten Wert haben. Zumindest sind sie in der Überzahl. Jede Figur ist so klein, dass sie in der Hand des Meisters komplett verschwindet. Der Bauer ist nicht so kunstvoll geschnitzt wie der Läufer oder der Springer, er hat bloß eine Kugel auf dem Kopf. Es ist ihm nicht erlaubt, eine Figur, die ihm direkt gegenübersteht, vom Brett zu schubsen. Er darf Zug um Zug voranschreiten, aber nie zurück.«
Es war bereits spät, der Großvater hatte seine Arbeit beendet und war zu Bett gegangen, doch der Junge machte kein Auge zu. Wenn es um Schach ging, konnte er die ganze Nacht aufbleiben.
»Pawn ähnelt den Bauern, er ist klug und zurückhaltend. Er hockt zwar immer nur unauffällig an seinem Platz, aber beim Schach hat er eine wichtige Funktion, genau wie die Bauern. Ich finde den Namen, den der Meister für den Kater ausgesucht hat, sehr passend. Wenn ich Pawn im Arm habe, sehe ich immer alles ganz klar vor mir und weiß, welchen Zug ich als Nächstes spielen muss. Pawn kennt natürlich nicht die Spielregeln, trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass er sogar mehr weiß als der Meister.«
Der Junge strich über die Wand. Ach, wenn Miira den Kater nur streicheln könnte …
»Aber weißt du, die Figur, die mich am meisten beschäftigt, ist der Läufer. Ich weiß auch nicht, warum. Immer wieder springt er mir ins Auge. Die beiden Läufer stehen zwar wie die Türme und die Springer jeweils auf einem weißen oder schwarzen Quadrat, aber sie müssen sich bei jedem Zug an die Farbe ihres Ausgangsfeldes halten. Für sie gibt es nur weiße oder schwarze Bahnen, von Anfang bis Ende. Sie sind zwar Kameraden, begegnen aber werden sie sich nie. Obwohl sie so rasant über die Diagonalen ziehen, wirken sie irgendwie einsam. Manchmal möchte ich sie fast trösten.«
Der Junge ließ seinen Blick noch einmal über das leere Schachbrett streifen, das sein Großvater für ihn an die Decke gemalt hatte. Er erinnerte sich noch genau an die Züge des Pinsels, dessen Spitze an einem Lineal entlanggeglitten war. Auch nachdem er das Licht gelöscht hatte, blieb dieses Bild auf seinen Augenlidern zurück. Die Quadrate wurden von der Dunkelheit verschluckt, das Spielfeld breitete sich aus wie ein weites Meer, in dessen unergründliche Tiefen der Junge hinabtauchte.
»Wenn man sich auf dem Schachbrett befindet, kann man viel weiter reisen als mit dem Flugzeug«, flüsterte er Miira mit geschlossenen Augen zu.
Jeden Tag nach der Schule besuchte der Junge den Bus, um das Schachspielen zu erlernen.
»Hallo, mein Junge!« rief ihm der dicke Fahrer vom Bett aus zu, sobald er in den Bus stieg. Die Sprungfedern ächzten und quietschten, wenn der Meister sich erhob. Er klappte das Buch, das er gerade las, zu und holte erst einmal für sie beide etwas zum Naschen. Bei allem, was er tat, brauchte er etwas Süßes, das er selbst zubereitet hatte. Dazu reichten ihm der Campingkocher und ein Topf, um die tollsten Sachen zu zaubern. In seinem Küchenschrank lagerte ein riesiger Vorrat von Keksen aller Geschmacksrichtungen, mit Schokostückchen, Ingwer, Rosinen oder Walnüssen. Außerdem liebte er Rührkuchen, Soufflés, frittiertes Gebäck mit dunklem Zuckerguss und vor allem Buttercremetorte. Es gab nichts, was er in seinem Bus nicht zubereiten konnte.
Wenn er die Schultern einzog, schaffte es der Busfahrer spielend leicht, den Tisch zu decken und jedem ein Getränk zu servieren. Für gewöhnlich aß er zehn Mal so viel wie der Junge, und erst wenn sein Hunger gestillt war, rieb er sich tatendurstig die Hände. Diesen Moment liebte der Junge. Der Meister hatte noch Krümel an seinem Mund, der Bus wurde von der Sonne durchflutet, und der Garten lag in friedlicher Stille. Jetzt wird erst einmal ausgiebig Schach gespielt, verhieß seine Miene.
Mit einer lässigen Bewegung streute er die Figuren aus einem dunkelbraunen Lederbeutel aufs Brett und holte die Schachuhr hervor. Es war eine Spezialuhr mit zwei Zifferblättern und zwei Knöpfen, mit der die jeweilige Bedenkzeit der beiden Spieler angezeigt wurde. Wird nach einem Zug die eine Uhr gestoppt, setzt sich die zweite in Gang. Der Meister legte von Anfang an Wert darauf, mit dem Jungen
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