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Schwestern der Angst - Roman

Schwestern der Angst - Roman

Titel: Schwestern der Angst - Roman
Autoren: Haymon
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leistete er seinen ersten Dienst. Ein Schirm ist ein Dach über dem Kopf. Einen Knirps zur rechten Zeit zu finden ist Glück, und glücklich ist, wer es empfinden kann. Eine Pfütze lag zu meiner Linken. Auch in diesen Zufälligkeiten sind innere Zusammenhänge, richtungweisende Zeichen zu sehen. Knirps, Regen, Pfütze, mein Gesicht als Spiegelung. Ich stand unter meinem tragbaren Zuhause, fühlte mich zwar wie gespickt, als die Tropfen auf das Spiegelbild einstachen und in der Pfütze zerplatzten, stieg aber darüber hinweg, denn mich lockte schon das nächste Zeichen auf den Weg zu meiner Schwester.
    Zum ersten Mal in meinem Leben blieb ich vor einem Brautladen stehen und bewunderte die zu Bräuten hergerichteten Puppen. Ich betrat den Laden. Fraglos und wie selbstverständlich hob ich das rechte Bein über die Schwelle und zog das linke nach. Eine sehr schlanke Verkäuferin mittleren Alters flötete mir einen schönen Tag zu und verstand meine Bitte, mich erst einmal nur umzusehen. Die Kleider waren gar nicht geschmacklos. Ich strich über die seidigen Stoffe. Mir gefiel das rot-weiß-rote am besten. Das Rot war nicht blutrot wie in der österreichischen Fahne, es war aus weinrotem Samt und der lange Rock aus dem perlmuttschimmernden Weiß eines Gletschers.
    Ich rief die Verkäuferin: „Madame, s’il vous plaît!“ Schon kam sie dahergetrippelt und mir fiel ihr rostig rot geschminkter Mund auf. Makellos gepflegte Hände, ohne Nagellack, ohne Schmuck. Das Haar war schwarz, zu einem Dutt zusammengerollt und von einem Stäbchen gehalten. Die Verkäuferin löste das Kleid vom Haken und hielt es vor ihren Körper, damit ich sehen konnte, wie es fiel. Ein klassisches Brautkleid und doch auch nicht – man könnte es auch abends zu einem feinen Dinner anziehen, sagte sie, oder in die Oper. Ich war noch nie in der Oper gewesen.
    Ich bekam Lust, das Kleid anzuprobieren. Die Verkäuferin hängte das Kleid in die Garderobe. Strümpfe, Ober- und Unterwäsche legte sie vor. Ich hatte noch nie echte Seidenstrümpfe angefasst. Die Strümpfe waren teuer und empfindlich, eine Laufmasche war schnell angerichtet. Die Fingerkuppe glitt zart über das Gewebe. Könnte man diesen Hauch mit echtem Seidenraupengarn flicken?
    Die Verkäuferin stellte Schuhe in die Umkleidekabine, wunderschöne rot-weiß-rote Schuhe. Ich fühlte in ihnen einen Halt, als stünde ich auf sicherem Boden. Was der Bräutigam tragen werde, fragte Madame. Ich dachte nach und legte die Fingerspitzen ans Kinn, während ich mir einen Mann vorstellte. Was trug so einer wie Paul? Welches Gewand wohl mir gepasst hätte, wäre ich ein Mann gewesen?
    Die Beleuchtung war nicht gerade schmeichelhaft. Meine Augenringe und geschwollenen Unterlider traten hervor. So entstellend waren der anstrengende Tag, die Nacht, die Reise und meine Jahre ohne Marie gewesen. Die Verkäuferin warf einen Schleier über mich. Mir gefiel diese Tüllwolke, die meinen Kopf mit vernebelnd weißen Schwaden zierte, was sich steif anfühlte, wie verkalktes Riff aus dem Adergeflecht meiner Prinzessinnenphantasien.
    „Was kostet es?“, fragte ich. Ich sah bildhübsch aus darin.
    Die Verkäuferin schmunzelte, räusperte sich und legte die Hand aufs Herz. Da es ein besonderes Kleid ist, von einem noch unbekannten Designer, sei es nicht teuer, aber auch nicht billig, der Schleier, ach, der würde nichts kosten.
    Im Spiegel wirkte ich plötzlich wie eine Imkerin. Der Tüll begann zu jucken und zu stechen. Die Wimpern verhedderten sich im Netz, was mich die Lider erschreckt aufreißen ließ und dazu brachte, meinen klaren Blick mit Schlieren zu trüben. Die Verkäuferin zurrte den Schleier fester. Sie war unbeeindruckt von meinen Zuckungen und meinte, dass Frauen jeden Alters Schleier trügen. Ich hörte an ihrem unbekümmerten Ton, dass sie ernst meinte, was sie sagte.
    Ich ging in die Kabine und schlüpfte in das bräutliche Kleid. Ich wäre gerne statt Marie an den Altar getreten. Ich überlegte, ob ich Paul gefallen würde. Ich sah überlegen aus. Ich betrachtete mich auch von hinten mit dem Handspiegel und fuhr die zarte Haut um den Mund und um die Augen mit der Fingerkuppe ab. Ich schämte mich meines hohlen Gefühls, driftete in die Grube der Schlüsselbeinknochen, fragte mich, was in mir vorging, dass ich so weit kam, in einem Brautkleid zu stecken.
    Ich riss den Schleier vom Kopf und öffnete den Reißverschluss, entleibte das Kleid. Sekunden später lag der Stoff schlaff in meinem Arm. Ich
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